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(Veröffentlichungen
der UEK, Band 17, Bestellung direkt beim Chronos
Verlag)
Die
Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus
UEK
(Hg.)
Zusammenfassung
Die vorliegende
Studie thematisiert die schweizerische Flüchtlingspolitik in den
Jahren 1933 bis 1945 und stellt eine überarbeitete Zweitauflage des
im Dezember 1999 publizierten gleichnamigen Berichts dar. Bereits in den
1950er und in vermehrtem Ausmasse ab den 1980er Jahren war die schweizerische
Flüchtlingspolitik zur Zeit des Zweiten Weltkriegs Gegenstand heftiger
Kontroversen. Zu zahlreichen Fragen liegen heute fundierte Untersuchungen
vor. In der vorliegenden Studie werden diese Forschungsergebnisse zu einem
Gesamtbild synthetisiert; gleichzeitig sind darin auch neue Fakten zu
verschiedenen Themen enthalten. Wie es das Mandat des Bundesrates verlangt,
stellen die finanziellen Aspekte der Flüchtlingspolitik einen der
Untersuchungsschwerpunkte dar.
Kategorien,
Zahlen und Methode
Während des Zweiten Weltkriegs beherbergte die Schweiz während
kürzerer oder längerer Zeit insgesamt knapp 300 000 Schutzsuchende.
Darunter fallen jedoch so unterschiedliche Kategorien wie internierte
Militärpersonen (104 000), temporär aufgenommene Grenzflüchtlinge
(67 000), Kinder auf Erholungsurlaub (60 000), Zivilflüchtlinge (51
000), Emigranten (10 000) und politische Flüchtlinge (250). Den Orientierungshorizont
der Studie bilden nun weniger der Krieg und all die Menschen, die infolge
dessen in der Schweiz Zuflucht suchten, sondern vielmehr die Opfer der
nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, das heisst
insbesondere jene, die als Zivilflüchtlinge, Emigranten oder politische
Flüchtlinge in die Schweiz zu gelangen suchten (Kapitel 1.4 und Tabellen
1 und 2). Eine solche Ausrichtung des Forschungsinteresses hat zur Folge,
dass neben dem Handeln der Behörden vor allem auch die Auswirkungen
der schweizerischen Flüchtlingspolitik auf die davon betroffenen
Menschen zu untersuchen sind. Den Flüchtlingen, ihrem Schicksal,
ihrer Not und ihren Hoffnungen wird damit der gebührende Platz eingeräumt.
Ein wichtiges methodisches Verfahren stellt dabei die Untersuchung von
Einzelfällen und die Darstellung individueller Schicksale dar.
Die
Jahre 1938 und 1942
Für die schweizerische Flüchtlingspolitik waren zwei Jahre von
zentraler Bedeutung: 1938 war die Schweiz an der Kennzeichnung der Pässe
deutscher Juden durch den «J»-Stempel beteiligt, und im August
1942 schloss sie die Grenze für Flüchtlinge «nur aus Rassegründen».
Angesichts
der Massenflucht, die nach dem «Anschluss» Österreichs
im Frühjahr 1938 einsetzte, suchte die Schweiz nach Wegen, um die
Flüchtlinge fernzuhalten. Als die ehemaligen österreichischen
Staatsangehörigen deutsche Pässe erhielten, erwog sie die Einführung
einer allgemeinen Visumpflicht für alle Deutschen. Dagegen sprachen
aus Schweizer Sicht allerdings wirtschaftliche und politische Überlegungen.
Schliesslich traten die deutschen Behörden auf den von Schweizer
Seite vorgebrachten Vorschlag ein, eine diskriminierende, auf deutsche
«Nichtarier» beschränkte Kennzeichnung der Pässe
vorzunehmen. Die Bestimmung des Kennzeichens ein Stempel mit Text,
rot unterstrichene Namen oder ein «J» war nach der
grundsätzlichen Einigung nur noch eine Frage technischer Details.
Obwohl der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung, Heinrich Rothmund,
auf die rechtliche und ethische Fragwürdigkeit der Kennzeichnung
hinwies, hiess der Bundesrat sie einstimmig gut. Damit legte die Schweiz
ihrer Einreisepraxis die in den deutschen Gesetzen begründeten rassistischen
Kriterien über die Bestimmung von «Ariern» und «Nichtariern»
zugrunde, und sie stimmte einer Vereinbarung zu, die auch die Kennzeichnung
der Pässe von Schweizer Juden prinzipiell ermöglichte. Für
deutsche Juden hatte das «J» zur Folge, dass ihre Ausreise
auch in andere Länder erschwert oder verunmöglicht wurde (Kapitel
3.1).
Im Sommer
1942 war die Situation grundlegend anders. Die Schweiz war ausser an der
Südwestgrenze von den Achsenmächten umschlossen, und die Versorgungslage
war angespannt. Die Studie zeigt, auf welchen Wegen und in welchem Umfang
Informationen über die deutschen Massenmorde in die Schweiz gelangten,
die damit zu einer eigentlichen Drehscheibe für Informationen verschiedener
Art wurde. Allerdings war es schwierig, zuverlässige Informationen
von Gerüchten zu unterscheiden. Ausserdem war mit den Massenmorden
von Verbrechen die Rede, die viele für kaum vorstellbar hielten.
Dennoch besteht kein Zweifel: Der Bundesrat, das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement und die Spitzen der Armee wussten im Sommer 1942,
dass den zurückgewiesenen Flüchtlingen die Deportation nach
Osteuropa und damit der Tod drohte. Angesichts dessen protestierten der
Schweizerische Israelitische Gemeindebund, die Hilfswerke und Teile der
Bevölkerung vehement gegen die Grenzschliessung (Kapitel 3.2).
Motive
und Handlungsanleitungen
Die Grenzschliessung im Sommer 1942 wurde unter anderem mit der Ernährungslage
gerechtfertigt. Die Quellen belegen jedoch, dass weder die Ernährungslage
noch militärischer oder politischer Druck von aussen bei der Grenzschliessung
eine entscheidende Rolle spielten. Es stellt sich also die Frage, weshalb
die Schweiz trotz des Wissens und ohne zwingende Not in den folgenden
Monaten Tausende von Flüchtlingen zurückwies und sich in die
nationalsozialistischen Verbrechen verstrickte, indem sie Flüchtlinge
ihren Verfolgern preisgab. Im vorliegenden Band erscheint der Antisemitismus
als wichtiger Grund dafür, dass die Verfolgung der Juden entweder
nicht wahrgenommen wurde oder aber aus dem Wissen keine Konsequenzen zugunsten
der Opfer gezogen wurden. Dies zeigt sich deutlich im Vergleich zur Politik
gegenüber jenen Flüchtlingen, die vor den Folgen der Russischen
Revolution geflohen waren und in der Schweiz Aufnahme sowie finanzielle
Unterstützung gefunden hatten. Während sich hier der allgemein
verbreitete Antikommunismus zugunsten der Flüchtlinge ausgewirkt
hatte, war die Ablehnung der jüdischen Flüchtlinge durch eine
weitverbreitete antisemitische Grundhaltung motiviert. Der schweizerische
Antisemitismus war kulturell, sozial und politisch begründet und
knüpfte an Formen christlicher Judenfeindschaft an. Er war eingebettet
in eine Bevölkerungspolitik, die seit dem Ersten Weltkrieg gegen
die «Überfremdung» der Schweiz und insbesondere gegen
die sogenannte «Verjudung» kämpfte (Kapitel 1.3). Auf
die Ausgestaltung der schweizerischen Flüchtlingspolitik wirkten
indes noch weitere, sowohl nationale wie auch internationale Einflussfaktoren
ein. Auf nationaler Ebene sind insbesondere die Fremdenfeindlichkeit und
der Überfremdungsdiskurs (Kapitel 2.2.2), der wirtschaftliche Protektionismus
(Kapitel 2.2.3), die Sorge um die Landesversorgung und die nationale Sicherheit
(2.2.4) sowie die Idee der humanitären Mission (Kapitel 2.2.1 und
6) zu nennen. Im Zusammenspiel und Widerstreit dieser Motive konnten sich
die schweizerischen Entscheidungsträger trotz ihres weitgehenden
Wissens über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
nicht zu einer grosszügigeren Aufnahme jüdischer Flüchtlinge
entschliessen. Auf internationaler Ebene gab die Flüchtlingsfrage
im Verlaufe der dreissiger Jahre im Rahmen des Völkerbunds zu Diskussionen
Anlass; im Juli 1938 fand schliesslich in Evian eine internationale Konferenz
statt, an welcher die Aufnahme von Flüchtlingen aus Österreich
und Deutschland international koordiniert werden sollte. Bei allen Versuchen,
die nationalen Flüchtlingspolitiken aufeinander abzustimmen, hielt
sich die Schweiz jedoch im Hintergrund.
Flucht,
Wegweisung, Aufnahme und Aufenthalt
Die Studie widmet der Flucht aus dem Verfolgerstaat, der Grenzsituation
mit all ihren Gefahren, den Abweisungen der Flüchtlinge und den Aufenthaltsbedingungen
der aufgenommenen Flüchtlinge besondere Aufmerksamkeit. Mit der Rekonstruktion
der Wege zahlreicher Flüchtlinge entsteht ein differenziertes Bild.
Für viele Tausende endete die Flucht bereits bei den diplomatischen
Vertretungen der Schweiz im Ausland, als sie erfuhren, dass sie keinerlei
Aussicht auf eine Einreisebewilligung hatten. Es gab allerdings auch schweizerische
Konsulatsangestellte und Beamte, die sich für die Flüchtlinge
engagierten und grosszügig Einreisebewilligungen erteilten. Ihr Verhalten
wurde jedoch sanktioniert, da es gegen die Vorschriften verstiess. Entscheidend
war, dass die Schweiz abgesehen von den sogenannten Härtefällen
ab 1938 generell alle jüdischen Flüchtlinge an der Grenze
zurückwies. Zugleich aber wies sie jene Flüchtlinge, die einen
mehrere Kilometer breiten Grenzstreifen illegal überquert hatten
und ins Landesinnere gelangt waren, in der Regel nicht mehr aus. Damit
rückte die Grenze ins Zentrum des Geschehens, wo sich äusserst
dramatische Szenen abspielten. Der Bericht zeigt, dass zahlreiche Privatpersonen
und Organisationen, sowohl im Ausland als auch in der Schweiz, den Flüchtlingen
beim Grenzübertritt und dem Weg ins Landesinnere halfen. Es gab Grenzbeamte,
die sich in Gewissenskonflikten befanden und sich über die Vorschriften
hinwegsetzten. So nahm die Schweiz während des Krieges rund 51 000
Zivilflüchtlinge auf, wovon rund 20 000 Juden waren (Kapitel 4.14.3).
Die Rückweisungen und Ausschaffungen im Kanton Genf im Herbst 1942
machen jedoch deutlich, dass auch das Gegenteil der Fall sein konnte.
Hier wurden Flüchtlinge gewaltsam ausgeschafft und zum Teil direkt
ihren Verfolgern übergeben. Es ist festzuhalten, dass die Verantwortlichen
für ihr unrechtmässiges Vorgehen später gerichtlich verurteilt
wurden. Diese Vorfälle stellen aber nicht ein zufälliges, unerklärliches
Fehlverhalten dar, sondern müssen in einem grösseren Zusammenhang
betrachtet werden: Der Kanton Genf, in dem sich wichtige Grenzübergänge
befanden, war im Herbst 1942 der eigentliche Brennpunkt des Geschehens.
Und die Behörden in Bern schritten erst nach einigem Zusehen ein,
da sie sich von einem harten Durchgreifen abschreckende Wirkung erhofften
(Kapitel 4.3.3, Exkurs: Die Genfer Praxis im Herbst 1942).
Der Aufenthalt
der Flüchtlinge in der Schweiz war durch eine weitgehende Kontrolle
und eine Entmündigung in vielen Bereichen gekennzeichnet. Nach dem
Grenzübertritt folgte der Aufenthalt in einem ausdifferenzierten
Lagersystem. Den zivilen Arbeitslagern waren militärische Lager vorgeschaltet,
in welchen die Lebensverhältnisse oft besonders prekär und die
Kontrolle besonders rigide waren: So unterstand die gesamte Post der Zensur,
und Briefe durften nicht in hebräischer Sprache geschrieben werden.
Viele der mit der Betreuung der Flüchtlinge beauftragten Militärpersonen
waren auf diese Aufgabe nicht vorbereitet und fielen bei Konflikten in
autoritäre militärische Verhaltensmuster. Dem oft mehrere Monate
dauernden Aufenthalt in militärischen Lagern folgte in der Regel
die Einweisung in ein ziviles Arbeitslager oder ein Flüchtlingsheim;
für eine beschränkte Zahl von Flüchtlingen bot sich die
Möglichkeit eines sogenannten Freiplatzes, das heisst der Unterkunft
bei Privaten (Kapitel 4.4). Besonders entwürdigend war für viele
Flüchtlinge die finanzielle Bevormundung, welche aus dem Sachverhalt
entstand, dass den ab August 1942 eingereisten Flüchtlingen die Verfügungsgewalt
über ihre Vermögenswerte abgenommen wurde. Während die
Verwaltung der Flüchtlingsvermögen der Schweizerischen Volksbank
unterstand, durften die Flüchtlinge nur mit der restriktiv erteilten
Genehmigung der Polizeiabteilung darüber verfügen. Mit dieser
Massnahme gedachten die Behörden, Sicherheiten für die Begleichung
öffentlich-rechtlicher Ansprüche zu schaffen (Kapitel 5.5).
Finanzielle
Aspekte der Flüchtlingspolitik
Die Untersuchung finanzieller Fragen der Flüchtlingspolitik steht
im Zusammenhang der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, der nationalsozialistischen
Beraubungspolitik und des Wirtschaftskrieges ab 1939. Von 1937 bis 1940
wurden zuerst die Emigranten und später alle nichtdeutschen Ausländer
in der Schweiz aus dem schweizerisch-deutschen Zahlungsverkehr ausgeschlossen.
Das schweizerische Interesse, die knappen Clearingmittel für die
Bedürfnisse der eigenen Volkswirtschaft zu reservieren, und das Interesse
der Deutschen am Zugriff auf die Vermögen der Flüchtlinge ergänzten
einander (Kapitel 5.1 und 5.2). Die Kosten für die Flüchtlinge
trugen bis 1942 zur Hauptsache die Hilfswerke (zu den Hilfswerken siehe
Kapitel 2.3). Sie gaben von 1933 bis 1954 um die 102 Mio. Franken aus.
Den grössten Teil, nämlich 69 Mio. Franken, übernahm der
Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF), der mehr
als die Hälfte seiner Mittel vom American Jewish Joint Distribution
Committee erhielt (Kapitel 5.3, Tabelle 5 und 6, Abbildung 1).
Als die
USA im Juni 1941 die kontinentaleuropäischen Guthaben blockierten,
ergaben sich für den Transfer von Hilfsgeldern zahlreiche neue Probleme.
Sowohl auf amerikanischer als auch auf schweizerischer Seite wurden die
Bedürfnisse der Hilfswerke und der Flüchtlinge hinter die kriegswirtschaftlichen
Interessen zurückgestellt. (Wir weisen in diesem Zusammenhang auf
den Beitrag zu den Lösegelderpressungen in den besetzten Niederlanden
hin: Veröffentlichungen der UEK, Bd. 24. Dieser Beitrag verdeutlicht
das Dilemma zwischen den Zielen wirtschaftlicher Kriegführung und
den Versuchen, Juden aus dem nationalsozialistischen Machtbereich freizukaufen.
Zudem zeigt sich, dass der schweizerische Finanzplatz bei den deutschen
Lösegelderpressungen eine zentrale Rolle spielte.) Bei der Übernahme
von Dollars wird deutlich, wie die Schweiz die Situation der Flüchtlinge
zusätzlich erschwerte. Vom Mai 1942 bis Ende 1943 nahm die Schweizerische
Nationalbank für das American Jewish Joint Distribution Committee
keine Dollarüberweisungen entgegen, und Flüchtlingen, die nach
dem 1. Januar 1942 illegal in die Schweiz geflohen waren, war es kaum
mehr möglich, Unterstützungszahlungen aus den USA zu empfangen
(Kapitel 5.4). Vor diesem Hintergrund erhält die damalige Diskussion
um die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge
eine neue Dimension. Zwar erhöhte der Bund sein finanzielles Engagement
ab 1942 massiv und gab bis 1954 über 136 Mio. Franken für die
Flüchtlingspolitik aus (Tabellen 811). Die detaillierte Untersuchung
verschiedener vermögensrechtlicher Massnahmen zeigt jedoch, dass
die finanziellen Fragen in die gesamte Flüchtlingspolitik eingebettet
waren und von den Behörden zum Teil auch im Sinne einer restriktiven
Flüchtlingspolitik eingesetzt wurden (Kapitel 5.3).
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