(Veröffentlichungen der UEK, Band 8, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Die Flüchtlings- und Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz im Kontext der öffentlichen politischen Kommunikation 1938–1950

Kurt Imhof, Patrik Ettinger, Boris Boller

Zusammenfassung

Als Beitrag zu einem umfassenden Bild der Schweiz in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit analysiert diese Studie die öffentliche Kommunikation über die beiden Politikfelder Flüchtlingspolitik (1938–1947) und Aussenwirtschaftspolitik (1940–1945) anhand der Berichterstattung zentraler Tageszeitungen der drei Sprachregionen der Schweiz. Die Befunde werden durch die Analyse der medialen Diskussionen um die Stellung der Schweiz zum nationalsozialistischen Konzept des «Neuen Europa» (1940/41) und zur Nachkriegsordnung der Alliierten (1944–1950) sowie der schweizerischen Nachkriegsdiskussionen im Krieg (1942–1945) ergänzt und kontextuiert.

Die Konzentration auf die mediale Kommunikation als Untersuchungsgegenstand begründet sich durch die Bedeutung der öffentlichen politischen Kommunikation für die Selektion der entscheidungsbedürftigen politischen Themen und die Legitimation politischen Handelns. Auch unter den Bedingungen einer partiellen Zensur während des Krieges bleibt diese Funktion der Öffentlichkeit grundsätzlich intakt (zur Bedeutung der Zensur vgl. die beiden Beiträge von Georg Kreis im selben Band). Im Zentrum der Analyse stehen die Fragen, welcher Stellenwert den untersuchten Themen während des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit beigemessen wird, welcher Handlungsbedarf und welche Handlungsoptionen wahrgenommen und welche Zukunftserwartungen geäussert werden. Zudem interessiert, wie die Tätigkeiten der betroffenen Institutionen beurteilt werden.

Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen werden sämtliche Beiträge zu den beiden Themenfeldern «Flüchtlinge» und «Aussenwirtschaft» und alle redaktionellen Beiträge zu den drei weiteren, einleitend genannten Themenfeldern in den Tageszeitungen Neue Zürcher Zeitung, Vaterland, Tagwacht, Tages-Anzeiger, Liberté, Journal de Genève, Giornale del Popolo und Corriere del Ticino erfasst. Für die Wirtschaftsberichterstattung wird zudem das Gewerkschaftsorgan Schweizerische Metallarbeiterzeitung berücksichtigt. Mit dieser Auswahl zentraler Partei- und Forumsblätter werden die Sprachregionen und die wichtigsten politischen Milieus verhältnismässig repräsentativ erfasst (Kapitel 2.3).

Die Beiträge werden nach quantitativen und qualitativen Kriterien ausgewertet. Quantifizierend lassen sich vermittels Zeitreihenanalysen die Dynamik und die Intensität der Berichterstattung (vgl. Abbildungen 2–18) darstellen und dadurch Phasen einer intensivierten Berichterstattung eruieren. Zudem lassen sich die zentralen Subthemen und Akteure bestimmen. Die derart erfassten Schwerpunkte der Berichterstattung werden mit einer qualitativ hermeneutischen Analyse vertieft untersucht.

Auf der Basis der vorliegenden Ergebnisse lässt sich die Frage nach dem Stellenwert der Flüchtlings- wie der Aussenwirtschaftsthematik in der öffentlichen politischen Kommunikation der Kriegs- und Nachkriegszeit eindeutig beantworten. Sowohl in absoluten Werten wie im Vergleich mit den zentralen Kommunikationsereignissen in den untersuchten Leitmedien der Deutschschweiz, die sich einerseits auf sozial- und binnenwirtschaftspolitische Themen, auf die Bundesratsbeteiligung der SPS sowie auf Fragen der Landesverteidigung bzw. der Landesversorgung und andererseits auf den Kriegsverlauf und die Spaltung der Nachkriegswelt in zwei antagonistische Blöcke konzentrieren (Kapitel 3.1), bleibt die Berichterstattung sowohl zur Flüchtlingspolitik als auch zur Aussenwirtschaftspolitik marginal.

Zur Interpretation dieses eindeutigen Befundes reicht der Verweis auf die Zensur-massnahmen nicht aus, da sie unter anderem die innenpolitisch gewendeten Diskussionen kaum beeinflussen. Am Beispiel der Flüchtlingsberichterstattung lässt sich zeigen, dass für die geringe Thematisierung eine weitgehend fehlende Problematisierung des Politikfeldes entscheidender ist. Diese ergibt sich aus dem von allen Sprachregionen und allen politischen Milieus geteilten Selbstverständnis der Schweiz als «Transitland». Selbst vereinzelte kritische Stimmen zur Flüchtlingspolitik, die sich vor allem in der sozialdemokratischen Tagwacht finden, stellen die Transitland-Doktrin nicht in Frage. Akzentuiert durch kulturell oder wirtschaftlich begründete Überfremdungsängste, bestimmt diese «Transitland-Doktrin» weitgehend den politischen Handlungsspielraum in der Flüchtlingspolitik (Kapitel 5.1). Das Selbstbild der Schweiz als Transitland und Hort humanitärer Tradition beeinflusst auch die Auswahl und Darstellung der Flüchtlingsgruppen. Mit den Flüchtlings- resp. Ferienkindern (Kapitel 5.3) und den internierten Soldaten (Kapitel 5.2) wird das medial vermittelte Bild der Flüchtlinge in der Schweiz durch jene Gruppen geprägt, deren Rückreise festgelegt oder zumindest erwartbar ist. Der Berichterstattung über die grosszügige Kinderhilfe kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu, denn in ihr wird der latente Widerspruch zwischen der humanitären Tradition der Schweiz und ihrer der Transitland-Doktrin verschriebenen Staatsraison aufgehoben. Die Berichterstattung über Flüchtlinge aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen ist von viel geringerem Umfang. Sie ist zudem auf jene Zeitungen beschränkt, die sich der jeweiligen Flüchtlingsgruppe durch eine gemeinsame Weltanschauung verbunden fühlen. Dass es sich bei den Flüchtlingen vor allem um jüdische Personen handelt, wird zwar in der Romandie, nicht aber in der Deutschschweiz explizit erwähnt (Kapitel 5.4). Ebenso selten kommt es – zumindest bis 1942 – zu einer diskursiven Verknüpfung zwischen der Berichterstattung über Flüchtlinge und der seit Beginn kontinuierlichen Berichterstattung über ihre Verfolgung im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich. Damit werden Fluchtgründe weitgehend aus der Berichterstattung über Flüchtlinge ausgeklammert. Dies trägt zusätzlich dazu bei, dass die Flüchtlingsfrage in der Schweiz mit Ausnahme der Debatte im Herbst 1942 (Kapitel 4.3) in nur geringem Mass diskutiert und sehr selten problematisiert wird.

Auch in den Diskussionen um das Verhältnis der Schweiz zum nationalsozialistischen Konzept eines «Neuen Europas» (Kapitel 7), die den Hintergrund für die Wirtschaftsberichterstattung bis 1942 abgeben, bildet sich ein konsensuelles Selbstverständnis der Schweiz als Grundlage für die Aussenwirtschaftspolitik aus. Nach der fundamentalen Verunsicherung im Sommer 1940 in der Deutschschweiz und der Romandie, in der überkommene milieuspezifische Deutungsmuster oder Ideen der faschistischen Erneuerungsbewegungen zumindest vorübergehend und partiell wieder orientierungsstiftend werden, finden die zentralen politischen Milieus jedoch nur langsam und unter ständigem Verweis auf die aktuelle Bedrohungslage zur umfassenden und integrativen Orientierung an den seit 1938 vage umschriebenen Grundwerten der Geistigen Landesverteidigung zurück. Diese Reorientierung geht einher mit der Betonung der Unabhängigkeit, des Föderalismus, der Neutralität und der Demokratie. (Kapitel 7.2). Während jedoch die Demokratie und der Föderalismus in den politischen Milieus und Sprachregionen unterschiedlich definiert und gewichtet werden, erfahren die Neutralität und die Unabhängigkeit der Schweiz in allen Zeitungen eine geradezu mystische Überhöhung. Dadurch gerät die Frage nach der Zweckmässigkeit und der konkreten Praxis der Neutralitätspolitik in den Hintergrund. Das Verhältnis zum «Neuen Europa» unter deutscher Hegemonie wird durch eine doppelte semantische Trennlinie zu definieren versucht. Als Gegensatzpaare werden einerseits wirtschaftliche Anpassung («Zusammenarbeit») und politische Unabhängigkeit und andererseits autonome (politische) Umgestaltung («Neuordnung») der Schweiz und Neuordnung Europas konstruiert. Diese auf den Sonderfall Schweiz konzentrierte und die spezifischen Verflechtungen der Schweiz mit den jeweiligen Machtblöcken negierende Perspektive bestimmt auch die Berichterstattung über die Aussenwirtschaftsbeziehungen der Schweiz (Kapitel 8). Die untersuchten Tageszeitungen übernehmen die offizielle Sprachregelung, mit der wirtschaftliche Anpassung semantisch klar von politischer Anpassung getrennt wird, und tragen so sowohl zur Entproblematisierung der Wirtschaftsbeziehungen wie zur Legitimierung der zuständigen politischen Instanzen bei. Die Wirtschaftsverhandlungen werden trotz der – zumeist nicht erwähnten – Konzessionen als Erfolg hinsichtlich der Wahrung der schweizerischen Neutralität und Unabhängigkeit dargestellt. Zugleich wird über die involvierten politischen Instanzen in der Regel so berichtet, dass kein Zweifel oder gar Kritik an ihrer Verhandlungsführung aufkommt. Die Aussenhandelsbeziehungen werden zudem aufs Engste mit den Fragen der Landesversorgung und der Sicherung von Arbeitsplätzen verknüpft. Sofern die Aussenwirtschaftsbeziehungen der Schweiz überhaupt breiter thematisiert werden, geschieht dies durchgängig für alle politischen Milieus sowie – mit Ausnahme des Tessins – für alle Sprachregionen vor dem Hintergrund befürchteter Versorgungsengpässe und erwarteter Arbeitslosigkeit (Kapitel 8.1.3). Hinter diesen ausgeprägt pessimistischen Zukunftserwartungen steht letztlich die durch die Erfahrungen ausgangs des Ersten Weltkrieges genährte Angst vor sozialen Unruhen und dem Auseinanderbrechen der in der Geistigen Landesverteidigung beschworenen «Volksgemeinschaft».

In der Regel werden auch die Beziehungen zu den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz als unproblematisch geschildert. Dies trifft vor allem auf Deutschland als den am häufigsten thematisierten Handelspartner zu. Die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit der Schweiz von Deutschland wird nur im Tages-Anzeiger und in der Tagwacht vereinzelt kritisch thematisiert.

Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Druck der Alliierten auf die Schweiz seit 1943 erfahren diese Argumentationsmuster eine Fragilisierung. Vor allem in der Auseinandersetzung mit den alliierten Vorwürfen hinsichtlich der schweizerischen Wirtschaftspolitik gegenüber Deutschland verwenden nun insbesondere der Tages-Anzeiger und die NZZ neutralitätspolitische Argumente. Dies ist jedoch mehr als nur ein Reflex auf die Kritik der Alliierten. Denn mit der Kriegswende und der schwindenden Bedrohungswahrnehmung verliert der Verweis auf volkswirtschaftliche Sachzwänge an Plausibilität. An seine Stelle tritt ein legalistisches Argument, welches die Neutralität ins Zentrum stellt. Das Insistieren in der öffentlichen politischen Kommunikation auf der unveräusserlichen integralen Neutralität des Landes führt dazu, dass die alliierten Drohungen Anfang 1945, die Schweiz wirtschaftlich total zu blockieren, sofern sie ihre Wirtschafts- und Handelspolitik gegenüber dem Deutschen Reich nicht ändere, einheitlich als Angriff auf die schweizerische Neutralität gewertet werden (Kapitel 8.2.5). Erst mit dem Beginn der Currie-Mission kommt es in der Tagwacht zu vereinzelter Kritik an den Schweizer Handelsbeziehungen und der in den Augen des sozialdemokratischen Organs dafür in erster Linie verantwortlichen «Finanzbourgeoisie». Die Tagwacht stellt damit jedoch nicht die schweizerische Neutralitätspolitik im Krieg in Frage.

Das Verhältnis der Schweiz zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, das ab 1943 zunehmend auch den Rahmen für die Aussenwirtschaftsberichterstattung bildet, ist geprägt durch eine alle Leitmedien zutiefst irritierende Infragestellung der schweizerischen Neutralität (Kapitel 10.1). Diese Irritation führt jedoch nicht zu einer Reflexion der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und ihrer politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen. Vielmehr versteifen sich – mit Ausnahme vereinzelter kritischer Stimmen in der Tagwacht und im Tages-Anzeiger – alle Kommentatoren auf ein Bild der Schweiz als Spielball und Opfer (geo)politischer Machtinteressen. Die Berichterstattung schwankt zwischen staatsrechtlichen Argumenten, mit denen das Verhalten der Schweiz in der Kriegszeit gerechtfertigt wird, einer an der Dichotomie von grossen Siegermächten und der kleinen Schweiz festgemachten Opferrolle sowie der pragmatischen Suche nach einem akzeptablen modus vivendi im internationalen Umfeld.

Mit dem Hinweis auf die Kontinuitäten in der Berichterstattung ist schliesslich die Frage nach der Bedeutung von Zäsuren verbunden. Innenpolitisch markiert die Kriegswende 1942/43 den Beginn einer Phase zunehmender Polarisierung, die durch die verstärkte Oppositionsrolle der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz ausgelöst («Neue Schweiz») und durch die erstarkende linkssozialistische Sammelbewegung Partei der Arbeit (PdA) verstärkt wird (Kapitel 9.2). Aussenpolitisch sieht sich die Schweiz ab Ende 1943 mit einer zunehmenden internationalen Isolation konfrontiert. In der sogenannten Pilet-Golaz-Krise im November 1944 fliessen beide Aspekte ineinander. Doch führt diese doppelte Irritation in der Transformationsphase ausgangs des Krieges nicht in eine grundsätzliche Neuorientierung. Das Vaterland knüpft mit der den braunen und den roten Terror gleichsetzenden Totalitarismusthese nahtlos an die Bedrohungsperzeption der frühen 40er Jahre an und etabliert ein Deutungsmuster, dem sich vorerst die NZZ und unter umgekehrten Vorzeichen auch die Tagwacht anschliessen. Mit dem Koreakrieg wird der lange Konversionsprozess der Sozialdemokratie «von Osten nach Westen» abgeschlossen. Im Klima der zweiten, nun konservativ gewendeten Geistigen Landesverteidigung im Kalten Krieg sind die Flüchtlings- und die Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges endgültig kein Thema mehr.