(Veröffentlichungen der UEK, Band 4, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Transit ferroviaire à travers la Suisse (1939–1945)
Der Eisenbahntransit durch die Schweiz (1939–1945)


Gilles Forster

Zusammenfassung

Die Studie über den Transitverkehr besteht aus zwei verschiedenen Teilen, wovon sich einer mit dem Personen- und der andere mit dem Warentransit befasst. Der dem Personenverkehr gewidmete Teil untersucht einerseits die Hypothese des Transports deportierter Juden durch die Schweiz und andererseits die Frage nach dem Transit italienischer Arbeiter nach Deutschland. Hinsichtlich des ersten Punktes kann davon ausgegangen werden, dass kein Zug mit Deportierten aus Frankreich das schweizerische Eisenbahnnetz benutzte. Von 40 der insgesamt 43 Züge aus Italien ist die Route rekonstruiert worden: sie fuhren nicht durch die Schweiz. Die drei verbleibenden Züge passierten die Alpen, wie man mit Sicherheit annehmen kann, über die östlichen Pässe, die eine direktere Verbindung zwischen Italien und Polen durch Österreich boten. Die Brennerlinie blieb passierbar; zur Zeit der fraglichen Züge hatte sie keine Bombenschäden erlitten. Darüber hinaus war das politische Umfeld nicht sehr günstig: Während der kritischen Zeit – Ende 1943 bis 1944 – waren die Schweizer Behörden strikter und hatten die Durchreise italienischer Arbeiter seit dem Sommer 1943 verweigert. Die Hypothese des Transits von Deportierten stützt sich auf immer wiederkehrende Gerüchte, die noch kürzlich im Umlauf waren (Kapitel I).

Zwischen 1941 und Mai 1943 durchquerten mehr als 180 000 italienische Arbeiter die Schweiz, um sich nach Deutschland zu begeben (II.2). Als Angehörige eines Achsenstaates können sie nicht als Zwangsarbeiter betrachtet werden; ihr Status ist weder mit jenem der Arbeiter aus Osteuropa noch mit jenem der Franzosen vergleichbar, die im Rahmen der Arbeitsdienstpflicht arbeiteten. Das änderte sich im Juli-September 1943 mit dem Sturz Mussolinis und der deutschen Invasion des nördlichen und zentralen Teils Italiens. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Arbeiter in Italien zwangsrekrutiert. Unsere Nachforschungen ergaben, dass ab Sommer 1943 kein Transit dieser Art durch die Schweiz mehr stattfand (II.5).

Der Warentransit scheint eine wichtige Dienstleistung für das Reich gewesen zu sein. Die schweizerischen Bahnverbindungen verfügten gegenüber der österreichischen Konkurrenz über eine Reihe von Vorteilen. Ihre geographische Lage zwischen den Industrieregionen Ruhr und Lombardei sowie die Transportkapazität und das leistungsfähige Schienennetz waren von Vorteil (III.1). Während des Zweiten Weltkriegs waren die Transitvolumen dreimal grösser als in der Vorkriegszeit. Diese Periode stellte im Vergleich mit der langfristigen Transitentwicklung einen Bruch dar (Abbildung 2, III.2).

Seit Mitte der dreissiger Jahre wurde Deutschland zu Italiens Hauptlieferanten für Rohstoffe und insbesondere für Kohle. Während drei Viertel dieser Lieferungen die Halbinsel normalerweise auf dem Seeweg erreichte, bewirkte die angelsächsische Blockade, dass die gesamte Versorgung Italiens ab März 1940 auf dem Schienenweg erfolgen musste (IV.1). Dieser Anstieg des Transitverkehrs bedeutete also nicht, dass die Versorgungslage Italiens insgesamt besser geworden wäre. Damit stiess die expansionistische Politik Mussolinis ab Herbst 1940 an ihre Grenzen.

Auch wenn der Transitverkehr und die schweizerische Einfuhr durch den Grundsatz des freien Transits eng verbunden waren, bestand doch nie ein direkter Zusammenhang (Abbildung 3, IV.2). Der Transitverkehr war nie Gegenstand echter Verhandlungen, obwohl die Deutschen dem Transit schweizerischer Güter durch das Reich ständig Schwierigkeiten bereiteten. Während des Krieges war der Anteil der für Italien bestimmten Kohle, der die Schweiz durchquerte, höher als 40%, und die Tendenz war sogar noch steigend: 1944 erreichten 60% des Brennstoffs Italien durch den Gotthard und den Simplon (IV.3). Wenn man die Fördergebiete und die Routenwahl über die Alpen miteinander in Beziehung setzt, so ist ersichtlich, dass auch während des Krieges immer ein rationeller Betrieb und betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund standen (IV.4). Die Verdunkelung der Bahneinrichtungen unterstreicht die Tatsache, dass die Transitmengen nahe bei ihrem theoretischen Maximum lagen (IV.6). Der Transit durch den Gotthard und den Simplon schien deshalb für das wirtschaftliche Leben Italiens unabdingbar zu sein und wurde als Entlastungsroute für die österreichischen Pässe geschätzt. Die Deutschen betrachteten den Transit als eine der vier wichtigsten von der Schweiz angebotenen Dienstleistungen (IV.7). Er wurde erst im Februar 1945 unterbrochen, als der Grundsatz des freien Transits bereits aufgegeben worden war. Hätte die Schweiz mit zu einem früheren Zeitpunkt verhängten Beschränkungen einen Beitrag zur Behinderung der Kriegsanstrengungen des Reichs in Italien leisten können (IV.8)?

Die Frage nach dem Transit von Kriegsmaterial ist seit der Kriegszeit Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Der deutsche Staatssekretär Ernst von Weizsäcker unterstrich 1942 die militärische Bedeutung des schweizerischen Schienennetzes für die Versorgung des Afrikakorps (V.1). Dieses Interesse betraf in erster Linie «doppelt verwendbare» Güter (zivil und militärisch). Die neutrale Schweiz verweigerte den Transit von Waffen, die für die Truppen in Nordafrika bestimmt waren; ein Transit dieser Art hätte im übrigen auch gegen die Haager Konvention verstossen. Ein Problem stellte sich aufgrund des Transits von Kriegsmaterial zwischen privaten Unternehmen, die gemäss derselben Konvention zugelassen werden können. Die Schweiz bewilligte derartige Durchreisen von Fall zu Fall. Die Bundesbehörden gingen im allgemeinen nur allzu gerne davon aus, dass Waffentransporte den Brenner passierten. Allerdings waren die Kontrollen nicht gründlich genug, um die Hypothese derartiger Transporte durch die Schweiz vollständig zu widerlegen – die Schweiz wurde von zahlreichen plombierten Zügen durchquert. Diese mangelnde Gründlichkeit lässt sich aus technischen Sachzwängen erklären; dennoch handelt es sich hier um eine Verletzung des Neutralitätsrechts (V.2). Nach dem Sommer 1943 sah sich die Schweiz unter grossem angelsächsischen Druck dazu veranlasst, den Transit von Flüssigbrennstoffen zuerst zu kontingentieren und danach – im März 1944 – zu verbieten, da es sich dabei um sogenannte kriegswichtige Waren handelte (V.3).

Die italienischen Exporte nach Deutschland betrafen traditionellerweise Konsumgüter wie zum Beispiel Früchte und Gemüse oder Textilien. Der Krieg veränderte diese Güterströme. Abgesehen von der Zunahme des Volumens (Abbildung 4, VI.2) setzte sich diese Ausfuhr vermehrt aus kriegswichtigen Waren wie beispielsweise Eisen und Chemieprodukten zusammen. Die bedeutsamsten Umwälzungen erfolgten indes mit der deutschen Besetzung Italiens im September 1943. Unter der Federführung von Albert Speer organisierten die deutschen Verwaltungsstellen in Italien die Ausplünderung der italienische Industrie und deren Überführung ins Reich (VI.2). Die Qualität der norditalienischen Industrie – hauptsächlich in der Flugzeug- und Metallindustrie – gibt eine Erklärung dafür, dass das deutsche Rüstungsministerium im Januar 1944 der Meinung Ausdruck gab, dass der Transit – von Süden nach Norden, aber auch von Norden nach Süden – nebst dem Devisenmarkt eine der zwei wichtigsten Dienstleistungen sei, welche die Schweiz Deutschland bot. Die Bedeutung des Transits war so gross, dass die Deutschen davon absahen, einen Wirtschaftskrieg mit der Schweiz vom Zaun zu brechen (VI.5). Nach der Wiederaufnahme des Süd-Nord-Transits im Oktober 1943 waren sich die Schweizer Behörden des nichtregulären Charakters dieses Warenverkehrs bewusst. Sie stellten fest, dass ein Grossteil der in Chiasso ankommenden Güter aus Requisitionen stammten. Ab November 1943 ergriffen sie einige Massnahmen, um Transitbewegungen dieser Art zu begrenzen; sie verhängten ein Transitverbot für Gebrauchtgüter und für Güter, die deutsche Verwaltungsstellen zum Absender hatten (VI.3). Diese Massnahmen stellten sich indes rasch als unzureichend heraus. Deshalb wurde ab März 1944 eine ganze Reihe von Regelungen zur Transitkontingentierung und zum Transitverbot erlassen (VI.4). Das Vorgehen der Schweiz war den deutschen Behörden zwar ein Dorn im Auge, vermochte die Verwirklichung ihrer Pläne jedoch nicht vollständig zu verhindern. Die schweizerischen Massnahmen begannen erst ab Sommer 1944 Früchte zu tragen. Die deutsche «Doppelspur-»Strategie, das heisst die Anwendung der Subsidiarität der Pässe Brenner und St. Gotthard, gestaltete sich zusehends schwieriger, da die schweizerischen Massnahmen eine Umleitung des die Kapazität der österreichischen Pässe übersteigenden Verkehrs durch die Schweiz verhinderten. Die Politik des Bundesrats für den Süd-Nord-Transit scheint strikter gewesen zu sein als jene für den Nord-Süd-Transit (IV.8 und VI.6).

Die Schweizer Eisenbahntunnels besassen für die Dissuasion einen zentralen Stellenwert. Bis zum Winter 1942/43 war man der Ansicht, dass die Bedrohungen in erster Linie vom angelsächsischen Lager ausgingen. Erst in den Monaten vor der Landung alliierter Truppen in Italien begannen sich die Schweizer Behörden über einen allfälligen deutschen Präventivschlag Sorgen zu machen (VII.1). Angesichts des Interesses des Achsenmächte am Transit durch die Schweiz hatten bestimmte Generalstabskreise allerdings bereits im Sommer 1940 mit der Ausarbeitung einer Dissuasionsstrategie begonnen: Wer sich der Schweizer Tunnels bemächtigen wollte, musste damit rechnen, dass sie zuvor gesprengt würden. Die Umsetzung dieser Strategie war wegen technischer Hindernisse und des Widerstands gewisser Kreise mit Schwierigkeiten verbunden. Erst im Frühjahr 1942 stand ein beschränktes Spreng-dispositiv zur Verfügung. Es bleibt allerdings anzufügen, dass die Deutschen seit Kriegsbeginn damit gerechnet hatten, dass die Schweiz ihre Tunnels im Falle einer Invasion zerstören würde (VII.2 und VII.3).

Die Eisenbahngesellschaften – die SBB und in einem geringeren Ausmass auch die BLS – beurteilten den Transitverkehr ausschliesslich aus kaufmännischer Sicht und zeigten sich über seine Entwicklung erfreut, ohne das politische Umfeld in Erwägung zu ziehen (VIII.1). Die hauptsächlichsten Erklärungsfaktoren hierfür liegen in den finanziellen Schwierigkeiten der dreissiger Jahre und der Befürchtung, dass die deutschen Pläne für die Erneuerung des europäischen Schienennetzes die schweizerischen Alpentransversalen ins Abseits drängen würden (VIII.2). Der Handlungsspielraum der Eisenbahngesellschaften war eng. Beispielsweise konnten sie ihre Tarife nicht selbst festlegen. Parallel zur kommerziellen Konkurrenz bestand zwischen den SBB und der Reichsbahn eine verwaltungsmässige Nähe, die wir als «berufliche Solidarität» bezeichnet haben (VIII.3). Die Verbindung zwischen dieser Solidarität und dem Konkurrenzdenken schlug sich auf der Ebene des Transitverkehrs darin nieder, dass dem Grossteil der deutschen Wünsche stattgegeben wurde. Die Reichsbahn versuchte aus den engen Beziehungen mit den SBB Kapital zu schlagen, indem sie bei den politischen Behörden der Schweiz Forderungen stellte. Diese administrative Organisation wäre weniger problematisch gewesen, wenn der Bundesrat eine klarere Politik verfolgt hätte. Indessen zog er es nicht selten vor, sich hinter der technischen Natur der Entscheidungen zu verstecken, um keine Richtlinien erarbeiten zu müssen. Es wäre deshalb falsch, die politische Unentschlossenheit den SBB anzurechnen. Diese Vorgehensweise schadete mit Sicherheit der Verteidigung der schweizerischen Interessen und schwächte die Verhandlungsposition in bezug auf Gegenleistungen (VIII.5). Was die Einnahmen der SBB aus dem Transitverkehr betrifft (VIII.6), so verzeichneten diese eine starke Zunahme, und zwar von 20 Mio. Franken im Jahre 1939 auf mehr als 70 Mio. Franken im Jahre 1941. Sie leisteten einen Beitrag an die finanzielle Gesundung der SBB, auch wenn sie insgesamt nie mehr als 16% der Bilanzsumme ausmachten. Da das Netz der BLS im wesentlichen als Transitlinie genutzt wurde, hatte diese aussergewöhnlich Konjunktur auf die Geschäftsergebnisse dieser Gesellschaft grössere Auswirkungen. Beinahe 50% der Gesamteinnahmen der bernischen Eisenbahngesellschaft stammten aus dem Transit-verkehr. Diese waren nicht leicht einzutreiben, weil sie seit Kriegsbeginn im italienisch-schweizerischen Clearingverkehr integriert waren (VIII.7). Da die italienischen Behörden unzureichende Beträge auf das zur Bezahlung der Eisenbahngesellschaften bestimmte Konto überwiesen, stand der Bund für die Forderungen gerade. Bei Kriegsende schuldeten die Kriegsparteien 89 Mio. Franken: ein Betrag also, der die Transiteinnahmen für 1943 und 1944 überstieg.

Was das Rollmaterial betrifft, so sandte die Schweiz rund ein Viertel ihres Wagenparks ins Ausland, hauptsächlich nach Deutschland und Italien (IX.1). Diese Fahrten dienten ausschliesslich der Versorgung der Schweiz. Es wäre deshalb verfehlt, diese Wagenlieferungen als schweizerischen Beitrag zur Behebung des deutschen Rollmaterialmangels zu betrachten. Auch hinsichtlich der Lokomotiven (IX.2) ist festzuhalten, dass die Vermietung von 25 SBB-Dampflokomotiven an die Reichsbahn mit den Bedürfnisses des Kohlenimports erklärt werden kann. Die trotz deutschen Einschüchterungsversuchen ausgesprochene Weigerung, weitere 25 Lokomotiven zur Verfügung zu stellen, stützt diese Schlussfolgerung.

(Original auf französisch)