Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 10.08.2001

Zurück ins Depot
Die Bergier-Kommission muss ihre Akten herausgeben

GENF, im August
Ende des Jahres wird sich die Unabhängige Expertenkommission (UEK), der der Historiker Jean-François Bergier vorsteht, auflösen: die Frist wird man eingehalten haben, den finanziellen Rahmen - gut z7wanzig Millionen Franken - hat man nicht gesprengt. Beides ist in der Schweiz so ungewöhnlich, dass man es nicht unerwähnt lassen sollte.
Die politische Bilanz fällt zwiespältiger aus. Unter starkem internationalem Druck war die Kommission 1996 von der Schweizer Regierung eingesetzt worden mit dem Auftrag, die Vorwürfe über das Verhalten des Landes im Zweiten Weltkrieg zu klären. Ursprünglich war der in der Öffentlichkeit sehr viel präsentere Zeitgeschichtler Urs Altermatt als Leiter vorgesehen. Doch weil Altermatt in seiner Geschichte des helvetischen Katholizismus den Antisemitismus vergessen hatte, konnte er das Amt nicht antreten. An seiner Stelle wurde der keineswegs als Experte der Kriegszeit bekannte Bergier, der gerade das Rentenalter erreichte, aus seinem Elfenbeinturm geholt und mit der undankbaren Aufgabe betraut, deren Anstrengungen ihm bald anzumerken waren.

Einsicht vor Rückgabe

Führungsschwäche warf man Bergier vor und mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber der Wirtschaft, wenn Unternehmen die Durchforstung ihrer Archive erschwerten. Doch auch der Auftraggeber liess es zunehmend an Rückhalt fehlen. Nicht ohne Gründe hat der keineswegs als Heisssporn bekannte Historiker Georg Kreis schon vor geraumer Zeit die Auffassung vertreten, die Untersuchungskommission - deren Mitglied er ist - sei zum " Watschenkind der Nation" geworden. Man hat ihr immer neue Hindernisse in den Weg gelegt und mit ungerechtfertigter Kritik nicht gespart. Je mehr der internationale Druck wich, um so schwächer wurde der Wille der Schweiz, ihre Vergangenheit zu erforschen.
Im Frühjahr verlor die UEK ihren Generalsekretär Linus von Castelmur. Ersetzt wurde er durch Myrtha Welti, die frühere Parteisekretärin von Christoph Blochers SVP. Aus der Partei, die zu den heftigsten Kritikern der Bergier-Kommission gehört, war Welti ausgetreten. Kaum war sie im Amt, kam es wieder zu einem Skandal. UEK-Historiker entdeckten im Archiv der UBS-Bank mehr als siebzig Schachteln mit Dokumenten über nachrichtenlose Vermögen, die man ihnen offensichtlich vorenthalten wollte. Vor der Übergabe an die Kommission wurden die Akten "gesiebt", schrieb Historiker Jakob Tanner in einem Bericht an die Kommission: "Das können wir aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht dulden."
Die UBS hatte schon einen Monat nach der Einberufung der UEK Dokumente zerstört, was nur bekannt wurde, weil der - umgehend entlassene - Wachmann Christoph Meili es offenbarte. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin "Facts", dem Tanners Brief zugespielt wurde, stellte der UBS-Archivar Robert Vogler den neuen Vorfall keineswegs in Abrede: "Wir sind auch Historiker und können beurteilen, was für die Unabhängige Expertenkommission relevant ist und was nicht."
Inzwischen - nach mehreren Verzögerungen - steht der Publikationsplan wohl endgültig fest. Ende August werden acht Berichte veröffentlicht, Sie betreffen den Handel mit geraubter Kunst, den Zahlungsverkehr mit den Achsenmächten, den Eisenbahnverkehr durch die Schweiz, die Zwangsarbeit, die eidgenössischen Chemieunternehmen sowie die Flüchtlings- und Aussenwirtschaftspolitik. Mit besonderer Spannung wartet man auf Mario Königs Forschungsergebnisse über die I.G. Farben, die direkt an der Judenvernichtung beteiligt war. Sie wurde gewissermassen in die Schweiz transferiert, um zu verhindern, dass ihr Vermögen den Alliierten in die Hände fiel. Es war nach dem Krieg Gegenstand eines juristischen Konflikts. In den sechziger Jahren konnte sich der Schweizerische Bankverein nach einem Kompromiss mit der Regierung Kennedy endgültig des Erbes bemächtigen. Auch Marion König beklagt sich über die schlechte Zusammenarbeit mit den Banken.
Die weiteren Forschungsberichte werden im Dezember erscheinen: insgesamt fünfundzwanzig zum Teil sehr stattliche Bücher, die der Zürcher Chronos Verlag herausbringt. Sie bilden die Grundlage einer Synthese, die rund fünfhundert Seiten umfassen und den eigentlichen Schlussbericht der Bergier-Kommission darstellen wird. Der Regierung wird er zum Jahresende vorliegen, im Buchhandel soll er im Frühjahr 2002 zum Preis von rund fünfzig Franken vertrieben werden. Für die Veröffentlichung hatte der Verlag der "Neuen Zürcher Zeitung" den Zuschlag bekommen. Doch die vielen Auflagen - gleichzeitiges Erscheinen in vier Sprachen (inklusive Englisch), umgehende Verfügbarkeit im Internet - haben die NZZ zum Verzicht bewogen. Dabei mag auch die Überlegung eine Rolle gespielt haben, dass die Publikation zu einem Zeitpunkt erscheint, da die Krise für die Schweiz zumindest aussenpolitisch einigermassen ausgestanden ist und das Interesse eines grösseren Publikums möglicherweise nur noch beschränkt sein wird. Der Schlussbericht wird nun von der Eidgenössischen Drucksachen- und Materialzentrale geduckt, was weder seiner Verbreitung noch seinem Ruf als unabhängige Forschungsarbeit besonders förderlich sein wird.
Schon vor Monaten begann die Diskussion über den zukünftigen Verbleib der ausgewerteten Dokumente. Die UEK hatte mit den meisten Unternehmen ein Abkommen getroffen, das die Rückgabe vorsah. Eine Notwendigkeit war das nicht, denn die Regierung hatte uneingeschränkte Akteneinsicht verordnet. Schlimmstenfalls hätte Bergier die Polizei rufen können. Doch das diplomatische Vorgehen hatte durchaus seine Vorteile ---- und die Archive ausländischer Filialen unterlagen ohnehin nicht den Schweizer Gesetzen.
Gegen die Rückgabe der Akten sprachen sich zunächst die Gegner der UEK aus, die deren Arbeit kritisch begutachte und einen Gegenbericht erarbeiten wollten. Sie sind im "Arbeitskreis Gelebte Geschichte" (AGG) organisiert. Eine "Interessengemeinschaft Schweiz/Zweiter Weltkrieg", die Sigmund Widmer leitet, Historiker und früherer Bürgermeister von Zürich, hat für den Herbst ein Taschenbuch angekündigt. Im Bereich Flüchtlingspolitik gibt es bereits durchaus ernstzunehmende Recherchen, die ein anderes Bild zeichnen als die UEK, deren Arbeit auch von Serge Klarsfeld kritisiert wurde. Die UEK-Mitglieder möchten die Dokumente ebenfalls weiter benutzen können - und sei es für persönliche Forschungsprojekte. Die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte verlangt unter Berufung auf das Archivgesetz von 1998, die Akten der UEK im Bundesarchiv zentral aufzubewahren. Die zuständige Ministerin Ruth Dreifuss kündigte an, sie werde im Kabinett für diese Lösung eintreten.

Kniefall vor der Wirtschaft?

Nun hat die Regierung ihr Machtwort gesprochen: Die Akten müssen zurückgegeben werden. Dieser Entscheid entspricht einer schweizerischen Tradition. In den sechziger Jahren hatte der Historiker Edgar Bonjour im Auftrag der Regierung die Neutralitätspolitik untersucht. Um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, verzichtete Bonjour für die jahrelange Arbeit auf jedes Honorar. Er zeichnete ein differenziertes Bild, doch die Dokumente, in die er als einziger seiner Zunft Einsicht nehmen konnte, blieben unter Verschluss. Dass des nun auch mit der zweiten umfassenden - noch wichtigeren - Untersuchung der Kriegsvergangenheit so sein wird, stellt dem Verhältnis des Landes zur Kritik kein gutes Zeugnis.
Der Regierung wird ein Kniefall vor der Wirtschaft vorgeworfen, deren Widerstand belohnt werde. Die UEK befürchtet Probleme für den Abschluss ihrer Arbeit. Georg Kreis deutet die Entscheidung als weiteres "Zeichen des generellen Stimmungsumschwungs gegen die UEK". Staatlicherseits angeordnete Forschungen werden auch in der Zeitgeschichte die Ausnahme bleiben. Es mag als Signal der Normalität gedacht sein, dass die Akten ihren Eigentümern zurückgegeben werden, damit in den Firmenarchiven die Kontinuität der Überlieferung gewahrt bleibt - gerade im Interesse künftiger Forschung. Aber ist es klug, die Normalität wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Arbeitsteilung heute schon wieder in Anspruch zu nehmen, da die Kommission noch nicht einmal ihren Bericht publiziert hat?
Ausserhalb der Eidgenossenschaft hat man die Rückgabe kaum zur Kenntnis genommen, und deshalb mag die Schweiz nicht ganz zu Unrecht den Eindruck haben, die Krise, die das Land in seinen Grundfesten erschütterte, sei tatsächlich bewältigt. Die Vergangenheit wird abgehakt, weiterführende Kontroversen würden nur den scheinbar wiedergefundenen Frieden stören. JÜRG ALTWEGG