(Veröffentlichungen der UEK, Band 23, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Roma, Sinti und Jenische.
Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beitrag zur Forschung

Thomas Huonker, Regula Ludi

Zusammenfassung

Die Forschung hat Roma, Sinti und Jenische als Opfergruppe der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik lange Zeit ausser Acht gelassen. Erst in den letzten Jahren wurden die Umstände der Verfolgung im «Dritten Reich» näher untersucht. Zur Haltung der Schweiz im betreffenden Zeitraum liegen nach wie vor erst wenige Publikationen vor. Der Beitrag der UEK klärt verschiedene Aspekte dieser Forschungslücke. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob und falls ja wie Roma, Sinti oder Jenischen die Flucht in die Schweiz gelang.

In Kapitel 1 werden die Begriffe erläutert, der Forschungsstand beschrieben und die spezifischen methodischen wie auch quellenbedingten Probleme des Untersuchungsgegenstands erörtert. Die ideologischen und strukturellen Voraussetzungen der schweizerischen und internationalen Abwehrhaltung gegenüber Fahrenden werden in Kapitel 2 dargelegt. In Kapitel 3 wird die Radikalisierung in Deutschland von der «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit hin zu Deportation und Genozid unter dem Nationalsozialismus aufgezeigt; Kapitel 4 analysiert anhand von mehreren Fluchtschicksalen das Verhalten der Schweiz gegenüber Fahrenden, und Kapitel 5 zeigt den Umgang der Schweiz mit Roma, Sinti und Jenischen bis in die Gegenwart auf.

Die Schweiz gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den ersten Staaten, die auf Gesetzesebene die Reisefreiheit für «Zigeuner» einseitig einschränkten und damit diskriminierende Bestimmungen mit sonderrechtlicher Wirkung schufen. Die 1906 ausgesprochene Grenzsperre, die zudem die Beförderung von «Zigeunern» mit der Bahn und auf Dampfschiffen verbot, wurde von den Schweizer Behörden auch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs aufrecht erhalten.

Die von den meisten europäischen Ländern in der Zwischenkriegszeit praktizierte Vertreibung von ausländischen und staatenlosen Roma und Sinti hatte zur Folge, dass fahrende Familien permanent zwischen einzelnen Staaten hin- und hergeschoben wurden. Die Radikalisierung der Vertreibungspolitik in den 1930er Jahren führte nicht selten zu gravierenden Grenzzwischenfällen und zu zwischenstaatlichen Differenzen mit diplomatischem Nachspiel, war es doch vor Kriegsbeginn Usus von Polizeibehörden verschiedener Staaten, «unerwünschte» Ausländer «schwarz» über die Grenze ins Nachbarland abzuschieben. Jenische mit schweizerischer Staatsbürgerschaft versuchte man im Gegenzug zur Sesshaftigkeit zu zwingen.

Damit war bereits vor der 1933 einsetzenden Verfolgung durch die nationalsozialistischen Behörden die Mobilität von Fahrenden in der Schweiz – durch ähnliche Massnahmen aber auch in ganz Europa – massiv eingeschränkt. Auf der Grundlage «pseudowissenschaftlicher» Erkenntnisse bauten die international kooperierenden Polizeibehörden ein Abwehrsystem auf, das zu restriktiven Einreisebestimmungen führte, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme überall verschärft wurden. Damit war den Verfolgten die Flucht verwehrt.

Die systematische Suche nach den Spuren von Roma, Sinti und Jenischen in den schweizerischen Flüchtlingsakten stösst rasch an methodische Grenzen, weshalb auch keine quantitativen Ergebnisse vorliegen. Man kann aber annehmen, dass sesshafte Roma und Sinti mit verbreiteten Familiennamen in die Schweiz fliehen konnten, ohne als «unerwünschte» «Zigeuner» erkannt zu werden. Feststellbar sind zwischen 1939 und 1944 vier Wegweisungen, die mindestens 16 Personen betrafen. Die Wegweisung von Anton Reinhardt im September 1944 belegt, dass offensichtlich gefährdete Sinti auch noch zu einem Zeitpunkt, als die restriktiven asylpolitischen Bestimmungen gelockert worden waren, weggewiesen wurden. Reinhardt wurde von den deutschen Behörden gefasst und nach einem Fluchtversuch erschossen (Kapitel 4.3.1).

Schweizerische Behörden intervenierten auch dann nicht, wenn Fahrende schweizerischer Nationalität von Deportation und dem möglichen Tod bedroht waren. Mehrere Fälle sind belegt, in denen die Behörden deren Staatsangehörigkeit nicht anerkannten beziehungsweise die möglichen Schritte zur Rettung der Gefährdeten gegenüber den nationalsozialistischen Behörden unterliessen.