(Veröffentlichungen der UEK, Band 12, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Schweizerische Versicherungsgesellschaften im Machtbereich des «Dritten Reichs»

Stefan Karlen, Lucas Chocomeli, Kristin D'haemer, Stefan Laube, Daniel C. Schmid

Zusammenfassung

Gegenstand des vorliegenden Bandes ist die Rolle der schweizerischen Versicherungsgesellschaften zur Zeit des Nationalsozialismus. Auf der Grundlage der erstmals zugänglichen Unternehmensakten wird die Tätigkeit sämtlicher schweizerischer Versicherer in die Untersuchung miteinbezogen, die zwischen 1933 und 1945 mit Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften im NS-Raum präsent waren. Die Studie ist problemorientiert angelegt und strebt keine umfassende Geschichte der schweizerischen Versicherungswirtschaft im fraglichen Zeitraum an. Sie wird von einem separaten Rechtsgutachten «Die Geschäftstätigkeit der schweizerischen Lebensversicherer im ‹Dritten Reich›: Rechtliche Aspekte und Judikatur» begleitet (Veröffentlichungen der UEK, Band 19). Der Aufbau der Studie folgt thematischen und chronologischen Ordnungskriterien.

Teil I beschreibt die internationale Stellung und die Entwicklung der schweizerischen Versicherungswirtschaft bis in die Nachkriegszeit, geht auf die in NS-Deutschland herrschenden Rahmenbedingungen ein und erläutert die damalige Stellung der schweizerischen Zweigniederlassungen.

Das Wachstum der schweizerischen Versicherungsgesellschaften erfolgte in der Form multinationaler Unternehmen und basierte schon früh zu einem wesentlichen Teil auf dem Auslandgeschäft, das Ende der 1930er Jahre gut 60 Prozent der Prämieneinnahmen generierte. Deutschland stellte den wichtigsten ausländischen Markt dar. Der Geschäftsgang der dortigen Zweigniederlassungen war in den 1930er Jahren und bis gegen Kriegsende zufriedenstellend, in manchen Branchen sogar recht günstig. Einem langsam, aber kontinuierlich ansteigenden Prämienvolumen stand ein ausgesprochen positiver Schadenverlauf gegenüber. Viele Gesellschaften konnten während der Kriegsjahre ihre technischen Rückstellungen über das Notwendige hinaus stärken und zusätzlich stille Reserven bilden. Bei Kriegsende stand die Schweizer Assekuranz mit weitgehend intakten Strukturen und einer gesunden wirtschaftlichen Grundlage da, während ein Grossteil der internationalen Konkurrenz nur mit staatlicher Beihilfe vor dem Bankrott bewahrt werden konnte (Kapitel 2). Die Geschäftstätigkeit in Deutschland während der Jahre 1933–1945 vollzog sich unter veränderten Rahmenbedingungen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann auch die Umgestaltung des Versicherungswesens. Den neuen ideologischen Vorgaben über die primären Aufgaben der Assekuranz folgte die Einbindung in die Gruppenorganisation der gewerblichen Wirtschaft und später die Neubesetzung der Versicherungsaufsicht. Aus der Diskussion um die Verstaatlichung der Privatversicherungsunternehmen ging die Privatassekuranz am Ende siegreich hervor. Die Schweizer Gesellschaften waren der deutschen Privatversicherung in dieser Angelegenheit wichtige Verbündete, was sich durch günstige Regelungen auf anderen Gebieten (insbesondere im deutsch-schweizerischen Versicherungszahlungsverkehr) bezahlt machte. Gesamthaft mussten die schweizerischen Gesellschaften aber der deutschen Konkurrenz den Vorrang lassen, insbesondere nach Kriegsbeginn, als die Eroberungsfeldzüge der Wehrmacht ein grosses zusätzliches Marktpotential erschlossen. Die deutschen Zweigniederlassungen schweizerischer Versicherungsunternehmen unterstanden der deutschen Versicherungsaufsicht und generell der deutschen Rechtsordnung. Allerdings besassen sie keine eigene Rechtspersönlichkeit und bildeten zusammen mit dem Hauptsitz eine wirtschaftliche und rechtliche Einheit. Sämtliche wichtige Entscheide wurden von den schweizerischen Hauptsitzen getroffen, die bis in die letzten Kriegswochen ihre Kontrolle über die Niederlassungen aufrechterhalten konnten (Kapitel 3).

In Teil II wird die Haltung der schweizerischen Versicherungsgesellschaften gegenüber den Gleichschaltungs- und Arisierungsmassnahmen des NS-Staates dargestellt. Die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs in Deutschland konfrontierte die schweizerischen Gesellschaften mit grundsätzlichen Fragen wirtschaftlicher, rechtlicher und moralischer Natur. Nach Kriegsbeginn wurde verschiedentlich die Frage aufgeworfen, ob die Tätigkeit in Deutschland nicht eingestellt werden solle. Ungeachtet der geäusserten Bedenken votierten aber letztlich alle Gesellschaften aus wirtschaftlichen Gründen für die Weiterführung des insgesamt profitablen deutschen Geschäfts. Dadurch blieben sie dem Anpassungs- und Gleichschaltungsdruck des nationalsozialistischen Regimes ausgesetzt. Sie wehrten sich gegen die deutsch-nationalen Bestrebungen in der Versicherungswirtschaft und gegen eine ökonomische Benachteiligung, waren aber bereit, sich als «arische Unternehmen» zu deklarieren. Einzelne Unternehmen ergriffen sogar Massnahmen, um einen «arischen» Verwaltungsrat und Aktionärskreis vorweisen zu können. Damit ermöglichten sie es, dass antisemitische Gesetze auch in der Schweiz ihre diskriminierende Wirkung entfalten konnten (Kapitel 4). In Deutschland fügten sich die meisten Zweigniederlassungen schweizerischer Gesellschaften unter dem Druck staatlicher Anordnungen und nationalsozialistischer Betriebsorganisationen oft kritiklos den Erfordernissen der neuen Ideologie; ausgewiesene Nationalsozialisten wurden eingestellt und teilweise in wichtige Positionen befördert. Besonders folgenschwer war die «Gleichschaltung» in der Entlassung jüdischer Mitarbeiter. Meist wurden diese Massnahmen vollzogen, bevor entsprechende Gesetze vorlagen. Ausserdem verweigerten schweizerische Versicherer den entlassenen jüdischen Mitarbeitern teilweise die ihnen zustehenden Abfindungsleistungen (Kapitel 5). Die Bereitschaft zur Überanpassung zeigte sich ferner in der Kündigung der Verträge mit jüdischen Mietern, die oft bereits vor Ablauf der gesetzlichen Frist erfolgten (Kapitel 6), genauso wie in der Schadenabwicklung nach der «Reichskristallnacht». Die Schweizer Sach- und Rückversicherer folgten hier der von den Spitzen der deutschen Assekuranz mit Göring ausgehandelten Lösung, obschon sich gerade in diesem Fall die Möglichkeit geboten hätte, durch einen sachlich leicht zu begründenden Protest das deutsche Unrechtsregime international blosszustellen (Kapitel 7).

Teil III der Studie behandelt einen zentralen Bereich des Mandats, nämlich die Auswirkungen der deutschen Devisenmassnahmen und der diskriminierenden Konfiskationspolitik auf die Geschäftspraxis der schweizerischen Versicherungsgesellschaften und die Frage der Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit: In den 1920er Jahren konnten die Schweizer Versicherer in Deutschland eine führende Stellung im Bereich der Fremdwährungsversicherungen (zumeist in Schweizer Franken oder US-Dollar) erlangen. Diese sollten vorwiegend Sicherheit vor instabilen Währungsverhältnissen bieten und viele Versicherte erhofften sich von ihnen auch einen zusätzlichen Rechtsschutz. Daneben dienten sie finanzkräftigen Kunden auch immer wieder zur Kapital- und Steuerflucht in die Schweiz (Kapitel 8). In den 30er Jahren erfolgte dann schrittweise die staatlich angeordnete Umwandlung der Fremdwährungspolicen. Die Gesellchaften versuchten, die negativen Folgen dieser Massnahmen möglichst auf die – in vielen Fällen jüdischen – Kunden abzuwälzen (Kapitel 9). Verhängnisvoller noch als die Umstellung der Fremdwährungsversicherungen wirkte sich für die jüdischen Versicherten die Beschlagnahmung und Konfiskation ihrer Policen aus. Zur Begleichung von Sondersteuern und -abgaben sowie zur Finanzierung der Auswanderung, um damit das nackte Leben retten zu können, kaufte eine Mehrheit der jüdischen Versicherungsnehmer ihre Policen bis zum Beginn des Krieges zurück. Anderen beschlagnahmte der NS-Staat ihre Versicherungswerte. Mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941 schritt das Regime dann u.a. zur direkten und pauschalen Konfiskation der Versicherungswerte jüdischer Kunden. Die Schweizer Versicherer reagierten unterschiedlich auf diesen staatlich gelenkten Beraubungsprozess. Es gab Gesellschaften, die durch Protest, Verweigerung und Verzögerung letztlich nur einen geringen Prozentsatz der vom Vermögensverfall betroffenen Policen an die NS-Behörden auszahlen mussten. Andere gaben dem deutschen Fiskus die Namen der jüdischen Versicherten ohne weiteres bekannt, lieferten die entsprechenden Werte widerstandslos ab und drängten bisweilen sogar auf eine rasche Erledigung des Vorgangs, um selbst aus dem Risiko zu kommen. Entsprechend hoch war bei ihnen Anzahl und Prozentsatz der insgesamt an die Finanzämter ausbezahlten Versicherungswerte. Mit der Auszahlung der Rückkaufswerte an die deutschen Finanzbehörden betrachteten die Versicherungsgesellschaften ihre Leistungspflicht als erfüllt und die Police galt für sie als erloschen; in der Nachkriegszeit nahmen sie deshalb keine kulante Haltung gegenüber den Versicherten ein. Die geschädigten Kunden stellten sich dagegen auf den Standpunkt, die Konfiskationen seien unrechtmässig erfolgt, die Policen daher weiterhin in Kraft und die Gesellschaften zur Auszahlung verpflichtet. Die schweizerischen Versicherungsgesellschaften traten den legitimen Forderungen der NS-Opfer oft mit grösserer Entrüstung und Entschlossenheit entgegen, als den vorangegangenen Unrechtsmassnahmen des nationalsozialistischen Regimes. So mussten Schweizer Gerichte befinden, wem die Last des rechtswirksam vollzogenen NS-Unrechts aufzubürden sei. Sie urteilten in letzter Instanz gegen die geschädigten Versicherungsnehmer, die im Vertrauen auf den sicheren Hort Schweiz einen Versicherungsvertrag mit einer schweizerischen Gesellschaft abgeschlossen hatten. Die ehemaligen Kunden sahen sich daher gezwungen, den oft entwürdigenden, langwierigen und komplizierten Weg der deutschen «Wiedergutmachung» zu beschreiten (Kapitel 10). Die andere Frage nach dem «Schicksal» jüdischer Versicherungswerte, nämlich diejenige der «Nachrichtenlosigkeit», nahm im Versicherungsbereich nicht denselben Stellenwert ein und erreichte nie dieselben Dimensionen wie bei den Banken. Die genaue Anzahl «nachrichtenloser» Policen konnte nicht ermittelt werden. Auch schweizerische Rückversicherungsgesellschaften wurden von den Konfiskationsmassnahmen der NS-Behörden berührt. Sie hatten in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren Garantiescheine für Partnergesellschaften im NS-Raum ausgestellt. Diese Erklärungen sollten den Kunden Schutz vor Insolvenz der Lebensversicherer und Entwertung ihrer Ansprüche bieten. Als die Policen jüdischer Garantiescheininhaber konfisziert wurden, hätten diese nach schweizerischer Rechtsprechung die Erfüllung ihrer Leistungen beim Garantiegeber einfordern können. Die betroffenen Rückversichererungsgesellschaften weigerten sich bis heute, eine solche Zahlungsverpflichtung generell anzuerkennen, willigten fallweise jedoch in Vergleichszahlungen ein. Tod, Deportation und der «eiserne Vorhang» verhinderten ausserdem, dass sich viele Anspruchsberechtigte melden und ihre Forderungen stellen konnten (Kapitel 11).

Teil IV schliesslich befasst sich mit den kriegsbedingten Veränderungen, wobei insbesondere untersucht wird, welche neuen Marktchancen sich den schweizerischen Gesellschaften im NS-Raum eröffneten und umgekehrt, welche Bedeutung der Standort Schweiz für die deutsche Assekuranz darstellte: Die Möglichkeit zur Geschäftsexpansion bot sich vor allem in der Sachversicherung und in der Rückversicherung. In Deutschland selbst konnten ausländische Versicherer allerdings nur in begrenztem Umfang neue Marktchancen wahrnehmen und auch in den besetzten osteuropäischen Gebieten wurden die freigewordenen Marktanteile vorwiegend unter einheimischen, deutschen und italienischen Versicherungsunternehmen aufgeteilt. In den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Westeuropas jedoch erwies sich für das NS-Regime ein zusätzliches Engagement der Schweizer Gesellschaften als volks- und wehrwirtschaftlich sinnvoll. Die schweizerischen Feuer- und Transportversicherer konnten in Frankreich, Belgien und Holland expandieren und Geschäftsanteile vertriebener britischer Gesellschaften übernehmen. Schweizerische Rückversicherungsunternehmen partizipierten durch ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung zur Deckung von Grossrisiken an einem Projekt der «Europäischen Grossraumwirtschaft» (Kapitel 12). Ausserdem betätigten sich die schweizerischen Sachversicherer im deutschbeherrschten Westeuropa stark in der spekulativen Kriegsrisikoversicherung und trugen damit auch in diesem wirtschaftlich wichtigen Bereich dazu bei, die bestehende Deckungsnot zu beheben (Kapitel 13). Während der NS-Raum zentral für das Geschäft der schweizerischen Gesellschaften war, stellte auch die neutrale Schweiz für die deutsche Assekuranz einen wichtigen Standort dar. Mit der Gründung von Tochtergesellschaften und Beteiligungen an Firmen in der Schweiz hatten Versicherungsunternehmen aus Deutschland bereits in den zwanziger Jahren Schutz vor Inflation und Vertrauensverlust gesucht. Nach der Machtergreifung Hitlers kam den deutschen Ablegern in der Schweiz zunächst die Funktion zu, für die Versicherungsverträge der deutschen Gesellschaften zu garantieren. Mehr und mehr wickelten die Tochtergesellschaften in der Schweiz auch das Neugeschäft ab und gaben es anschliessend an ihre deutschen Muttergesellschaften weiter. Um diese wichtigen Gesellschaften in der Schweiz vor der alliierten Wirtschaftsblockade zu schützen, wurden sie bei Kriegsbeginn mit Hilfe schweizerischer Strohmänner durch verschiedene Formen der «Verschweizerung» getarnt. Diese in der Regel treuhänderischen Operationen erwiesen sich bis gegen Kriegsende, als sie allesamt aufflogen, trotz der schwarzen Listen der Alliierten als recht erfolgreich (Kapitel 14).

Die Studie kommt zum Schluss, dass die schweizerischen Versicherungsgesellschaften zur Zeit des Nationalsozialismus einer streng wirtschaftlichen Logik verhaftet blieben und moralisch-ethische Aspekte bei Entscheiden von grösserer Tragweite weitgehend ausblendeten (Kapitel 15).