(Veröffentlichungen der UEK, Band 7, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Schweizer Chemieunternehmen im «Dritten Reich»

Lukas Straumann, Daniel Wildmann

Zusammenfassung

Die Studie befasst sich mit den Beziehungen der Schweizer Chemieindustrie zum «Dritten Reich». Im Zentrum stehen die vier in Basel ansässigen Unternehmen J. R. Geigy AG (Geigy), Gesellschaft für Chemische Industrie in Basel AG (Ciba), F. Hoffmann-La Roche & Co. AG (Roche) sowie Chemische Fabrik vormals Sandoz AG (Sandoz). Diese Gesellschaften waren im Bereich der Farbstoff- und Pharmaproduktion als einzige wichtige nichtdeutsche Unternehmen von 1933 bis 1945 in NS-Deutschland – beziehungsweise während des Krieges im besetzten Polen – tätig und besassen dort eigene Werke. Untersucht wurden die Problemfelder NS-Rassenpolitik, Rüstungs- und Kriegsproduktion, Zwangsarbeit sowie Finanztransfer. Im Mittelpunkt standen die Fragen nach dem Wissen über das «Dritte Reich», der Kontrolle über die deutschen Tochtergesellschaften und der Handlungsspielräume der Unternehmen.

Wissen über das «Dritte Reich»
Die Stammhäuser der Chemieunternehmen in der Schweiz verfügten über ein hohes Mass an Detailwissen über die politische und wirtschaftliche Situation in NS-Deutschland. Durch eine intensive Korrespondenz mit ihren Niederlassungen, die Reisetätigkeit von leitenden Angestellten sowie einen regelmässigen Kontakt mit deutschen wie schweizerischen Behörden und Unternehmen informierten sie sich umfassend über das «Dritte Reich». Das Wissen um ökonomische und politische Zusammenhänge wurde von den Unternehmen in ihr wirtschaftliches Kalkül integriert und diente als Entscheidungsgrundlage.

Marktentwicklung und Kriegswirtschaft
Geigy war seit 1934 in der Lage, ab ihrem in Deutschland gelegenen Werk Grenzach Farbstoffe deutschen Ursprungs für Partei- und Behördenzwecke zu liefern. Der deutsche Umsatz von Geigy stieg bis 1939 auf ein Maximum von 10,3 Mio. Franken. Nach Kriegsbeginn trat im Deutschlandgeschäft ein grösserer Wandel ein, wobei die Farbstoffverkäufe stark rückläufig waren. Demgegenüber bekam der Verkauf von synthetischen Gerbstoffen, Textilhilfsstoffen und seit 1943 des Insektizids DDT zunehmende Bedeutung.

Das polnische Ciba-Werk in Pabianice (PCI) produzierte Farbstoffe, Pharmazeutika und in geringerem Ausmass auch Chemikalien. Seit 1942 übertraf der Pharmaumsatz die Farbstoff- und Chemikalienverkäufe, wobei ein grosser Teil der Produkte an die Ciba-Tochtergesellschaft in Berlin geliefert wurde. Mit Verkäufen in der Höhe von 7,6 Mio. Reichsmark erzielte die PCI 1942 ihren höchsten Umsatz während des Kriegs.

Die Verkäufe der deutschen Roche-Niederlassung stiegen von 1939 bis 1943 von 8,8 auf 22,3 Mio. Reichsmark an. Eine besondere Stellung hielt Roche Berlin im kriegswirtschaftlich wichtigen Vitamin-C- und Opiategeschäft inne. Diese Produkte wurden in grossem Umfang an staatliche Stellen, insbesondere an die Wehrmacht geliefert. Als Inhaberin der Patente zur synthetischen Ascorbinsäureherstellung kontrollierte Roche den deutschen Vitamin-C-Markt. Unter den deutschen Opiateherstellern nahm Roche mit einem Produktionsanteil von rund 15% den vierten Platz ein.

Alle deutschen Produktionsbetriebe der untersuchten Unternehmen waren während des Krieges als wehrwirtschaftlich wichtige Betriebe («W-Betriebe») eingestuft. Neben der Wehrmacht kauften auch Sanitätsstellen der SS Ciba-, Roche- und Sandoz-Arzneimittel. Der Zweite Weltkrieg verstärkte insbesondere die Nachfrage nach Pharmazeutika. Demgegenüber wurde die Farbstoffherstellung von der deutschen Kriegswirtschaft nicht als «kriegswichtig» eingestuft und verlor an Bedeutung.

Während Geigy Grenzach, die PCI und Roche Berlin in den dreissiger Jahren zum Teil bedeutende Gewinne erzielten, veränderte sich die Lage nach Kriegsbeginn. Roche Berlin wies bis Ende 1944 Gewinne aus, die PCI bilanzierte in den Jahren 1939 und 1943 Verluste und Geigy Grenzach wies seit 1943 Verluste aus. Von grosser Bedeutung waren die entrichteten Lizenzgebühren und die in der Schweiz anfallenden Gewinne aus Warenlieferungen an die deutschen Gesellschaften. Das Engagement der Konzerne im «Dritten Reich» lässt sich allerdings nicht allein aus kurzfristigen Gewinnerwartungen erklären. Ein zentrales Interesse der Chemieunternehmen bestand darin, ihre deutschen Investitionen längerfristig zu sichern.

Kontrolle
Die untersuchten Schweizer Unternehmen verfügten im «Dritten Reich» über gut eingespielte Netzwerke. Geigy zeichnete sich durch ausgesprochen gute Beziehungen zum «Reichsbeauftragten für Chemie» und Leiter der «Reichsstelle Chemie», Claus Ungewitter, aus, der die Schweizer Chemieunternehmen als Gegenwicht zum Quasi-Monopolisten IG Farben schätzte. Roche verfügte über gute Kontakte zur Wehrmacht, unter anderem wegen ihrer wissenschaftlichen Forschung. Ciba wandte sich erfolgreich an deutsche Behörden, als nach der Besetzung von Polen die IG Farben AG versuchte, den Einbezug der im «Warthegau» gelegenen Ciba-Tochter PCI in den deutschen Chemiemarkt zu verhindern.

Kennzeichnend für alle untersuchten Unternehmen ist, dass sie im «Dritten Reich» selbstbewusst agierten und in vielen Fällen erfolgreich ihre Interessen durchzusetzen vermochten. Kaum als Nachteil erwies sich dabei, dass die Unternehmen in schweizerischem Eigentum standen. Innerhalb der durch die NS-Wirtschaftspolitik gesetzten Rahmenbedingungen gelang es den Schweizer Konzernleitungen weitgehend, die Kontrolle über Personalpolitik, Produktionsprozesse und Finanzen beizubehalten.

Handlungsspielräume
Insbesondere am Beispiel der Reaktionen auf die NS-«Rassenpolitik» zeigt sich, dass die einzelnen Unternehmen bestehende Handlungsspielräume unterschiedlich wahrnahmen.

Geigy reichte im Februar 1934 bei der NSDAP eine eidesstattliche Erklärung über die «arische» Abstammung ihrer Aktionäre ein, um einen «Berechtigungsnachweis» für Farbstofflieferungen für Partei- und Behördenzwecke zu erlangen. Die Ciba-Niederlassung in Berlin ersetzte im Sommer 1933 ihre jüdischen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder durch «arische» Deutsche. Auch Sandoz ersetzte bereits im April 1933 den jüdischen Aufsichtsratspräsidenten ihrer deutschen Gesellschaft, den Nobelpreisträger Richard Willstätter, durch einen «arischen» Geschäftsmann. Roche Berlin trennte sich erst 1937 und 1938, als das NS-Regime seine antisemitischen Praktiken und Vorschriften massiv verschärfte, von ihren jüdischen Aufsichtsräten und Angestellten, um als «nichtjüdische Firma» weiterhin auf dem deutschen Markt tätig sein zu können. Roche Warschau stellte 1940 pro forma junge nichtjüdische Polen an, um zu verhindern, dass diese als Zwangsarbeiter nach Deutschland verbracht wurden.

Als einziges der untersuchten Unternehmen war Geigy an der «Arisierung» eines jüdischen Unternehmens beteiligt. Mit dem Kauf verschiedener pharmazeutischer Verfahren der Wiener Syngala GmbH beabsichtigte Geigy 1938, auf dem Arzneimittelgebiet zu diversifizieren. Da Geigy dem ehemaligen Inhaber der Syngala-Verfahren seit 1939 vertraglich vereinbarte Lizenzzahlungen verweigerte, kam es zu einem Rechtsstreit.

Bei Geigy Grenzach kamen in den Jahren 1943 bis 1945 mindestens 33 holländische und französische Zwangsarbeiter zum Einsatz. Ein Zwangsarbeiter wurde durch den zuständigen «Lagerführer» misshandelt; zwei holländische Zwangsarbeiter wurden vorübergehend in ein «Arbeitserziehungslager» eingewiesen. Bei Roche in Grenzach standen in den Jahren 1940–1945 mindestens 61 Kriegsgefangene und 150 ausländische Zwangsarbeiter im Einsatz, die unter anderem aus der Ukraine, Slowenien, Holland und Frankreich stammten.

Entscheidungsträger und unternehmerische Logik
Die Personalpolitik weist darauf hin, dass für das Verhalten der Unternehmen in NS-Deutschland und im besetzten Polen neben unternehmerischer Logik auch ethische Orientierungen der Entscheidungsträger handlungsrelevant waren. Trotzdem suchten alle vier Schweizer Chemieunternehmen in Deutschland auch nach 1933 ihre Umsätze zu steigern, brachten neue Produkte auf den Markt und erschlossen sich neue Kunden bei den NS-Behörden und den Parteiorganisationen der NSDAP. Auch wenn die Entscheidungsträger der Schweizer Unternehmen differenzierte politische Positionen vertraten, so entsprach ihr unternehmerisches Handeln funktional den Interessen des nationalsozialistischen Regimes.