(Veröffentlichungen der UEK, Band 2, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Interhandel.
Die schweizerische Holding der IG Farben und ihre Metamorphosen – eine Affäre um Eigentum und Interessen (1910–1999)


Mario König

Zusammenfassung

1928/29 gründete der deutsche IG Farben-Konzern in Basel die Finanzholding IG Chemie, in welche er zentrale Teile seiner internationalen Tochtergesellschaften einbrachte, darunter insbesondere einen bedeutenden Komplex chemischer Fabriken in den USA, die ab 1939 in der GAF (General Aniline & Film Corporation) zusammengefasst waren. 1940 wurde die bis dahin bestehende Verbindung zwischen IG Farben und der Basler IG Chemie gelöst. Die beteiligten Schweizer erhoben seither den Anspruch auf uneingeschränktes Eigentum an den US-amerikanischen Fabriken, was die Behörden der Vereinigten Staaten nicht anerkennen wollten. Sie bezeichneten die Basler Gesellschaft als Tarnung deutscher Interessen und beschlagnahmten 1942 die Fabriken. Daraus entwickelte sich eine der langwierigsten Finanzaffären des 20. Jahrhunderts, begleitet von diplomatischen, rechtlichen und publizistischen Auseinandersetzungen, die erst in den 1960er Jahre einen Abschluss fanden, mit ihren Nachwirkungen jedoch bis in die Gegenwart reichen.

Die vorliegende Untersuchung behandelt die Gründung, Finanzierung und Entwicklung der IG Chemie (Internationale Gesellschaft für chemische Unternehmungen AG), die Ende 1945 ihren Namen änderte und fortan Interhandel (Internationale Gesellschaft für Handels- und Industriebeteiligungen AG) hiess; ferner untersucht sie die mit dieser Holdinggesellschaft verbundene Bank, ursprünglich Eduard Greutert & Cie., ab 1940 Sturzenegger & Co. Der von der UEK erteilte Auftrag beinhaltete auch, die Art der Bindungen zwischen IG Farben und den schweizerischen Gesellschaften zu klären, die damit einher gehenden Vermögenstransaktionen zu erhellen, den beteiligten Personenkreis zu identifizieren und zum Vorwurf der Tarnung Stellung zu nehmen.

Die IG Chemie entstand 1928 auf Initiative des IG Farbenvorstands, insbesondere von dessen Finanzchef Hermann Schmitz, ab 1935 Vorstandspräsident des Konzerns. Es handelte sich nicht um eine Tarnorganisation, sondern um eine Beteiligungsgesellschaft, die Schmitz mit Hilfe des Bankhauses Ed. Greutert & Cie. schuf, das 1920 auf Initiative und mit Geld der Frankfurter Metallgesellschaft gegründet worden war, jedoch ab 1925 mehrheitlich im Dienst von IG Farben internationale Transaktionen tätigte. Die Gründung erregte Aufsehen, da die IG Chemie mit einem Kapital von 290 Mio. Fr. die bei weitem kapitalstärkste Gesellschaft der Schweiz darstellte. Die finanziellen Abläufe rund um die Gründung können heute nicht mehr restlos geklärt werden. Fest steht, dass IG Farben nach einer Übergangsphase schon zu Beginn der dreissiger Jahre keinen direkten Kapitalbesitz an der IG Chemie besass. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln kaufte diese IG Farben die US-Töchter sowie eine Minderheitsbeteiligung am norwegischen Konzern Norsk Hydro ab. Diese waren ihrerseits in einer Kreuzverflechtung minderheitlich an der IG Chemie beteiligt. Die Bindung des Komplexes an den deutschen Konzern war kein Geheimnis. Deren Benennung stellte vielmehr eine Voraussetzung für den Erfolg der Gründung dar, welche wesentlich darauf abzielte, für IG Farben zusätzliches Kapital zu mobilisieren: Der Konzern verkaufte seine ausländischen Beteiligungen und behielt sie dennoch unter Kontrolle. Diese sicherte er sich durch einen Options- und Dividendengarantievertrag, welcher einerseits den Aktionären der IG Chemie eine der IG Farben äquivalente Dividende garantierte und anderseits IG Farben berechtigte, die Beteiligungen der IG Chemie jederzeit zum Buchwert zurückzukaufen.

Kontrolliert wurde die IG Chemie zudem durch die Ausgabe von Vorzugsaktien, welche nur geringes Kapital, jedoch erhebliche Stimmkraft repräsentierten. Die Vorzugsaktien waren in einer Reihe kompliziert verschachtelter Briefkastenfirmen deponiert, welche von einer Handvoll Vertrauensleute von IG Farben und des schweizerischen Mitgründers, Eduard Greutert, beherrscht wurden. Es sind insgesamt drei Ebenen der Bindung zwischen IG Farben und der schweizerischen Holding zu erkennen: der Bindungsvertrag von 1929, die engen persönlichen Vertrauensbeziehungen zwischen den zentral beteiligten Personen mitsamt der daran hängenden Kontrolle der Vorzugsaktien und die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen. Die Kontakte zwischen den zentralen Personen reichten meist weit vor 1933, teilweise sogar vor den Ersten Weltkrieg zurück.

Seit den späten 1930er Jahren suchten IG Chemie und Bankhaus Greutert sich von den engen Bindungen an IG Farben zu lösen, da die Bedingungen der deutschen Devisenbewirtschaftung die ursprünglichen vertraglichen Abmachungen zunehmend obsolet machten. Angesichts der deutschen Devisenknappheit hätte IG Farben die Dividendengarantie kaum mehr gewährleisten können; noch weniger realisierbar wäre die Wahrnehmung der Rückkaufoption gewesen. Mit der Verschlechterung der internationalen Beziehungen ab 1937/38 infolge der aggressiven Politik des NS-Regimes wurde die geschäftlich vielversprechende Bindung an IG Farben zur Belastung, vor allem im Verhältnis zu den USA. Die deutsche Konzernleitung zögerte jedoch, den Wünschen nach Aufhebung des Bindungsvertrags entgegenzukommen, da dieser das Herzstück der eigenen Kontrolle war. Erst infolge langwieriger Verhandlungen in der Frühphase des Kriegs kam es im Mai 1940 zur bedingungslosen Aufhebung des Bindungsvertrags. Der Entscheid fiel knapp vor dem deutschen militärischen Triumph in Westeuropa. Der Zeitpunkt war nicht von der militärischen Lage, sondern vom Druck amerikanischer Behörden auf die US-Besitzungen der IG Chemie bestimmt, ihre Eigentümer und allfällige Interessenbindungen anzugeben. Im Vordergrund stand die Besorgnis um eine mögliche Beschlagnahmung der Fabriken. Es gibt keine Belege, dass diese Lösung mit einem geheimen mündlichen oder schriftlichen Vorbehalt belastet gewesen wäre. Alles deutet vielmehr darauf hin, dass die Aufhebung vorbehaltlos sein musste, um gegenüber den Amerikanern glaubhaft zu wirken. Bei IG Farben hoffte man, nach dem Krieg die engen Beziehungen wieder erneuern zu können. Die langjährigen Kontakte mit den Schweizer Vertrauensleuten und deren Interesse, die US-Fabriken weiterhin mit dem nötigen wissenschaftlich-technischen Know how versorgt zu sehen, machten eine solche Erwartung nicht unrealistisch. Als «Tarnung» sind jedoch diese Gegebenheiten nicht angemessen zu bezeichnen. Es handelte sich um eine offene Option auf die Zukunft, über welche IG Farben infolge des Kriegsverlaufs schon vor 1945 jede Kontrolle verlor.

Dieses Resultat wird nicht in Frage gestellt durch eine Reihe anhaltender Dienste, welche die beteiligten Schweizer IG Farben auch während des Kriegs weiterhin leisteten in der Unterstützung echter Tarnungen der internationalen Interessen des Konzerns. Diese Dienste verdeutlichen die Stärke alter Verbindungen und das Ausmass des Vertrauens, das IG Farben in die Schweizer setzte. Sie sind Aspekte der wirtschaftlichen Kollaboration. Was das rechtlich sistierte Verhältnis zwischen den deutschen IG Farben und der schweizerischen IG Chemie betrifft, so hätte ein anderer Kriegsausgang auch für die Zukunft der letzteren und ihrer Beteiligungen Konsequenzen gehabt. Über deren Aussehen kann nur spekuliert werden.

Die amerikanischen Fabriken der GAF wurden 1942 beschlagnahmt. Die schweizerische Diplomatie war nur sehr begrenzt bereit, die Interessen der IG Chemie in den USA zu verteidigen, da die Behörden im Grunde den Verdacht der Amerikaner teilten, dass bei der Vertragsaufhebung von 1940 Vorbehalte im Spiel waren. Die finanzielle Undurchsichtigkeit der Holding und die geringe Auskunftsbereitschaft von deren Leitern erhöhte das Misstrauen, das sich aus dem Wissen um zahlreich existierende deutsche Wirtschaftstarnungen in der Schweiz nährte. Erst 1945/46 erfolgte jene Weichenstellung, welche den Konflikt mit den USA unausweichlich machte. In zwei aufwendigen Revisionen fand die Schweizerische Verrechnungsstelle 1945/46 zahlreiche Belege für die Enge der Beziehungen zwischen IG Farben, IG Chemie und der Bank Greutert/Sturzenegger, jedoch trat keine verdeckte Abmachung oder eine über 1940 hinaus reichende Steuerung der Basler Holding durch den deutschen Konzern zutage. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, diese sehr erheblichen Kapitalien für schweizerische Interessenten zu sichern. Dass die Kriegsanstrengung der Alliierten einen entscheidenden Beitrag geleistet hatte, die rechtlich korrekte Ablösung von 1940 irreversibel zu machen, wurde von schweizerischer Seite zu keinem Zeitpunkt berücksichtigt. Statt dessen erhob man seit 1948 den Anspruch, dass die GAF schweizerisches Eigentum darstelle. Die amerikanische Seite blieb ihrerseits der Suggestionskraft der eigenen Propaganda verhaftet, welche in der IG Chemie nur eine gewöhnliche Tarnung sehen wollte, so dass der Rechtskonflikt angesichts der beiderseitigen Neigung zur moralischen Überhöhung der eigenen Ansprüche unausweichlich wurde. Der von den USA immerhin mehrfach angebotene Weg einer aussergerichtlichen Kompromisslösung war hingegen verbaut, solange die Schweizer Kontrolleure der Interhandel glaubten, den ganzen Komplex an sich ziehen zu können. Sie setzten ihre Hoffnungen auf die konservativsten Kräfte der US-Politik, die mit dem Kalten Krieg Auftrieb erhielten.

Ab 1950 wurde die Interhandel-Affäre auch als öffentlich-publizistische Schlacht in der Schweiz ausgetragen. Viele phantastische Geschichten, die sich heute um die Interhandel ranken, entstanden im Gefolge dieses medialen Konflikts. Auf der geschäftlichen Ebene hatten die Leiter der Holding nach dem Krieg durch Verkauf eines Teils ihrer Aktien einen schweizerischen Aktionärskreis aufgebaut, um mit Hilfe dieser Lobby glaubwürdiger als echt «schweizerische» Gesellschaft auftreten zu können. Diese Aktionäre dienten anderen Interessenten als Stosstrupp, um die Gesellschaft, welche potentiell enorme Kapitalwerte repräsentierte, unter eigene Kontrolle zu bringen. Daraus entbrannte ein heftiger Machtkampf, der im Herbst 1957 endete, als der Bankier Hans Sturzenegger seinen Zugriff auf die Vorzugsaktien aufgab. Erst zu diesem Zeitpunkt schalteten sich die schweizerischen Grossbanken ein, indem sie den Verwaltungsrat der Holding übernahmen. Zugleich begann die Schweizerische Bankgesellschaft, teils auf eigene Rechnung, mehrheitlich aber für ein internationales Konsortium von Grosskunden, Interhandel-Aktien anzukaufen. Die schweizerischen Ansprüche, mindestens zwei Drittel der GAF zu erhalten, verhinderten jedoch weiterhin einen Kompromiss mit den US-Behörden. Angesichts ungewisser Aussichten zogen sich die Schweizerische Kreditanstalt und der Schweizerische Bankverein 1961 zurück, so dass die Schweizerische Bankgesellschaft (SBG) die Holding fortan allein kontrollierte. Nach dem Regierungswechsel von 1961 in den USA rangen die Unterhändler der SBG sich durch, eine 50 : 50-Lösung zu akzeptieren. Nach Abzug diverser Steuerleistungen fielen 40 Prozent des Erlöses der 1965 versteigerten GAF an die Eigentümer der Interhandel, 60 Prozent an den amerikanischen Staat. Infolge der günstigen Konjunkturentwicklung der Nachkriegszeit war dies ein erheblicher Betrag von 122 Mio. Dollar, nach damaligem Wechselkurz beinahe 500 Mio. Fr. 1967 fusionierte die SBG mit der Interhandel, so dass der Bank diese Mittel zuflossen.

Im Nachhinein hatte die SBG ab 1983 einen langwierigen Prozess mit der IG Farben in Liquidation zu bestehen, welche bis heute die Hinterlassenschaft des aufgelösten deutschen Konzerns verwaltet. Die IG Farben in Liquidation hatte seit den 1950er Jahre wiederholt unberechtigte Ansprüche gegen Interhandel erhoben und verlangte nun eine Beteiligung am GAF-Erlös, da die IG Chemie/Interhandel auch über die Vertragsaufhebung von 1940 hinaus treuhänderisch an IG Farben gebunden gewesen sei. Der Nachweis einer solchen Bindung gelang nicht, wobei es keine ausschlaggebende Rolle spielte, dass die Bankgesellschaft durch erheblichen Druck auf schweizerische Behörden diese dazu veranlassen konnte, sämtliche relevanten Akten des Schweizerischen Bundesarchivs, darunter insbesondere den umfangreichen Revisionsbericht von 1946 (den sogenannten Rees-Bericht), unter Verschluss zu nehmen. Für die Sperrung ausschlaggebend waren nicht irgendwelche im Bericht enthaltenen «Beweise»; ausschlaggebend war, dass die Vertreter der Eidgenossenschaft in der Auseinandersetzung mit den Amerikanern sich stets darauf berufen hatten, der Bericht zeige eindeutig, dass es keine Bindungen der IG Chemie an IG Farben mehr gegeben habe. Diese Darstellung war nicht zutreffend. Wie die vorliegende Studie zeigt, blieb der Revisionsbericht letztlich unentschieden im Urteil, sammelte jedoch substantielles Material, welches die Enge der Beziehungen zwischen IG Farben und der Schweizer Holding bis 1940 und vereinzelt noch darüber hinaus belegt. Zudem ist er, der Zeitstimmung des Jahrs 1945 folgend, von erheblichem Misstrauen gegen die Beteuerungen der Firmenvertreter getragen. Die Revisoren hatten sich angestrengt, alle belastenden Momente zusammenzutragen. Dieses Schlüsseldokument, dessen bis in die Gegenwart anhaltende Sperrung zu Spekulationen Anlass gegeben hat, hätte in den Prozessauseinandersetzungen der 1980er Jahre allerdings keine entscheidenden Beweise für eine über 1940 hinausgehende rechtliche Kontrolle der IG Chemie durch die IG Farben beitragen können, jedoch wäre die Prozessführung im Falle seines Vorliegens für die SBG unzweifelhaft aufwendiger gewesen. Mit der Publikation der vorliegenden Studie, die alle zentralen Aussagen des Rees-Berichts zusammenfasst, entfallen die Gründe für seine Geheimhaltung.