(Veröffentlichungen der UEK, Band 1, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Fluchtgut – Raubgut.
Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution

Esther Tisa Francini, Anja Heuss, Georg Kreis

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie beschäftigt sich zum einen mit der Rolle der Schweiz als Kunsthandelsplatz und Drehscheibe für Kulturgüter zur Zeit des Nationalsozialismus. Zum anderen untersucht sie die Folgeereignisse und insbesondere die juristische Aufarbeitung der Vorgänge zwischen 1933 und 1945 durch die schweizerischen Behörden in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Zentrum des Interesses stehen sowohl die Eigentümer der Vermögenswerte als auch deren Verwerter, die Händler, Museen und die Sammler. Die Untersuchung konzentriert sich stark auf Kunstwerke; andere Kulturgüterkategorien werden zwar an zahlreichen Stellen thematisiert, konnten aber nicht vertieft behandelt werden.

Die Schweiz war Umschlagplatz für Raubgut und Fluchtgut aus NS-Deutschland und den besetzten Gebieten. Unter «Raubgut» werden die von den NS-Institutionen geraubten, beschlagnahmten und anderweitig ihren rechtmässigen Besitzern entzogenen Kulturgüter verstanden. Die in dieser Arbeit neu eingeführte Kategorie «Fluchtgut» bezeichnet diejenigen Kulturgüter, die von ihren rechtmässigen Eigentümern im Bestreben, sie vor dem Zugriff der NS-Behörden in Sicherheit zu bringen, in die Schweiz transferiert wurden. Die ebenfalls untersuchte Gruppe der «entarteten», vom NS-Regime verfemten, Kunst, umfasst Werke, die sowohl als Raub- als auch als Fluchtgut in die Schweiz gelangen konnten.

Erstmals wurde die Emigration von Kunsthistorikern, -händlern und -sammlern aus NS-Deutschland in die Schweiz untersucht. Mit diesen Akteuren gelangten auch einige Sammlungen, oder zumindest Teile davon, in die Schweiz. Als bedeutend erwiesen sich für die Untersuchung die rund ein Dutzend aus Deutschland emigrierten Händler, die sich in der Schweiz aufhielten. Mit der Flucht und der Emigration dieser Fachpersonen gelangte ein hohes Mass an fachlicher Kompetenz in die Schweiz. Zudem erwuchsen mit der Anwesenheit dieser Händler auf dem schweizerischen Kunstmarkt enge Beziehungen zu Deutschland. In einigen Fällen konnte aufgezeigt werden, dass diese Kunsthändler, darunter auch Juden, eine beträchtliche Bedeutung im damaligen Kunsthandel erlangten, da sie gleichsam als Bindeglied zwischen den noch im NS-Machtbereich verbliebenen beziehungsweise bereits entzogenen Sammlungen und dem schweizerischen Kunsthandel auftraten (Kapitel 2 und 3.2.2.3). Waren für die Entziehung von Kunst- und Kulturgütern im «Dritten Reich» vor allem die Oberfinanzpräsidien, die Museen und die Reichskulturkammer verantwortlich, so vollzog sich der Transfer der entzogenen Güter indes nicht über offizielle NS-Dienststellen oder Beamte, sondern fast ausschliesslich über den Kunsthandel. Dieser war in der Schweiz rechtlich kaum reguliert, bis 1935, 1938 und 1944 restriktivere Kontrollen eingeführt wurden, die jedoch mehr dem Schutz der einheimischen Kunstschaffenden dienten, als dass sie eine sorgfältige Überprüfung der Provenienz der ein- und ausgeführten Werke zur Folge gehabt hätten. Eine gewisse Einschränkung hatte auch der 1934 eingeführte Verrechnungsverkehr mit Deutschland bewirkt, doch spielte der An- und Verkauf über den Clearing im Vergleich zu den Tauschgeschäften, die zwar ebenfalls genehmigt werden mussten, eine eher unbedeutende Rolle. Neben diesen Einfuhrmöglichkeiten wurde Kulturgut auch via Zollfreilager, Diplomatengepäck, Umzugsgut und Schmuggel in die Schweiz gebracht (Kapitel 3.1.2).

In bezug auf das Verhalten der zentralen Akteure auf dem schweizerischen Kulturgütermarkt, der Museen, Sammler und Händler, lässt sich folgendes festhalten: Beim Kauf von Objekten zweifelhafter Herkunft verfolgten die Museen insgesamt eine zurückhaltende Politik. Sie waren jedoch als Verwerter im Sinne von Lagerung und anschliessender Verwendung in Ausstellungen bedeutsam. Trotzdem gelangten durch Stiftungen und Schenkungen Werke fragwürdiger Herkunft in ihre Bestände (Kapitel 3.2.2.1). Im Vergleich zu den Museen waren private Sammler um einiges kaufkräftiger und unkritischer, was anhand des Sammlers Emil G. Bührle aufgezeigt werden konnte (Kapitel 3.2.2.2). Die Händler wurden auf ihre Handlungsspielräume und vor allem im Falle des jüdischen Emigranten Fritz Nathan auf ihre Zwangslagen untersucht (Kapitel 3.2.2.3). So half dieser nicht nur Verfolgten der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik, die ihre Sammlungen in Sicherheit bringen wollten, sondern er beriet und unterstützte auch deutsche und schweizerische Museen bei ihren Ankäufen und Tauschgeschäften.

Besondere Aufmerksamkeit wird der mehrheitlich im Besitz der Schweizerischen Kreditanstalt befindlichen Treuhandvereinigung Fides, deren Rolle auf dem Kultur-gütermarkt bisher nicht berücksichtigt worden war, sowie der Luzerner Galerie Fischer geschenkt. Die Fides trat infolge der Devisenbewirtschaftung und der dadurch entstandenen Sperrmarkkonten als Akteurin auf dem deutschen Kunstmarkt auf und konnte durch Kunstankäufe, im Auftrag von vor allem ausserhalb des NS-Machtbereichs befindlichen Personen, einen Teil von gesperrten Guthaben in Form von Kunstwerken aus Deutschland exportieren und damit in einem zweiten Schritt in Devisen umwandeln (Kapitel 3.2.3). Die Galerie Fischer, das damals grösste Auktionshaus der Schweiz, erzielte über Tauschgeschäfte mit französischen Impressionisten, «Emigrantenauktionen» und der Vermittlung von Werken an die Sammlung Hermann Görings und das «Führermuseum Linz», alles spezifische Aspekte des Kunsthandels der NS-Zeit, einen hohen Umsatz (Kapitel 3.2.4). Bezüglich des Handels mit «entarteter Kunst» zeigt die Studie deutlich, dass die viel beachtete Auktion der Galerie Fischer 1939 in Luzern zu einer engeren Verflechtung des schweizerischen Kunstmarktes mit NS-Deutschland beitrug. Insgesamt muss festgehalten werden, dass Fischers Rolle für den Kunsthandelsplatz Schweiz noch zentraler war, als bisher angenommen wurde. Die Studie zeigt allerdings auf, dass die Bedeutung des Handels mit «entarteter Kunst» in der Schweiz relativiert werden muss. Neben der Auktion in Luzern im Jahr 1939, die dem Reich eine halbe Million Schweizer Franken an Devisen zuführte, fand in der Schweiz – aus Gründen der Marktsättigung – nur noch am Rande ein Handel mit «entarteter Kunst» statt (Kapitel 4.3). Erstmals wurde für diese Arbeit der Bestand im Bundesarchiv Koblenz auf die Frage hin durchgesehen, wie viele Objekte aus dem Schweizer Kunsthandel in die zwei grössten NS-Sammlungen, nämlich diejenige Hitlers und Görings, Einzug gehalten haben (Kapitel 4.4 und 4.5). Am Beispiel der Verbindungen zwischen schweizerischen Kunsthändlern und dem Kunstmarkt Paris konnte wiederum der Weg von einzelnen «arisierten» Objekten in die Schweiz aufgezeigt werden (Kapitel 5.2).

Abschliessend geht die Studie auf die Restitutionspolitik der Schweiz bezüglich der ins Land gelangten Kunst- und Kulturgüter ein (Kapitel 6). Es wird aufgezeigt, dass die Schweizer Restitutionsgesetzgebung – stark vom britischen Modell beeinflusst – die Verfolgten in zwei Klassen teilte: in solche, die während den Kriegshandlungen in den besetzten Gebieten beraubt wurden, und in diejenigen, die bereits vor 1939 und während der ganzen Zeitspanne im «Altreich» den verschiedenen Massnahmen der NS-Beraubungspolitik unterlagen. Der grösste Teil des von den Alliierten in der Schweiz aufgefundenen Bestands an Raubkunst, es handelte sich mit zwei Ausnahmen um Bilder und Zeichnungen, wurde allerdings nach dem Krieg restituiert. Die Untersuchungsbehörden unterliessen es jedoch, intensiv nach weiteren geraubten Objekten zu suchen. Die Schweizer Besitzer der Raubgutbilder wurden aufgrund der ebenfalls vor der Raubgutkammer durchgeführten Regressprozesse vom Staat allesamt für die Bilderrückgabe entschädigt, da ihnen Gutgläubigkeit attestiert wurde; die Eidgenossenschaft wiederum liess sich die ihr entstandenen Kosten vollumfänglich durch die Bundesrepublik Deutschland zurückerstatten.

Zum Schluss soll festgehalten werden, dass quantitative Angaben aufgrund der Quellenlage nur in einzelnen Teilbereichen der Thematik möglich sind. Festgestellt werden kann jedoch, dass insgesamt mehr Fluchtgut als Raubgut in die Schweiz gelangte. Es konnte zudem nachgewiesen werden, dass Fluchtgut sowohl von Museen als auch von Privaten erworben wurde, Raubgut hingegen eher von letzteren. Als Drehscheibe ins Drittausland fungierte die Schweiz in einem grösseren Anteil für Fluchtgut, während Raubgut in der Schweiz oftmals seinen endgültigen Absatz fand.