UNABHÄNGIGE EXPERTENKOMMISSION
SCHWEIZ - ZWEITER WELTKRIEG
Bern, 10. Dezember 1999
Pressekonferenz;
Einleitungsreferat
von Prof. Jean-François Bergier
Die
wichtigsten Ergebnisse
Wir stellen Ihnen heute morgen den Bericht der Unabhängigen Expertenkommission
Schweiz Zweiter Weltkrieg über «Die Schweiz und die Flüchtlinge
zur Zeit des Nationalsozialismus» vor einen lange erwarteten Bericht,
der bereits vor der Publikation Diskussionen ausgelöst hat. Der Bericht
umfasst rund 350 Seiten und liegt in französischer, deutscher, italienischer
und englischer Sprache vor. Dazu kommen vier Beihefte, die verschiedene
Aspekte der damaligen Flüchtlingspolitik vertieft behandeln. Wir werden
im folgenden zuerst auf einige methodische Fragen eingehen und dann
die wichtigsten Ergebnisse vorstellen.
Die Flüchtlingspolitik war bereits in den 50er Jahren Gegenstand
heftiger Kontroversen, als bekannt wurde, dass die Schweiz im Jahre 1938
bei der Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden mit dem «J»-Stempel
eine aktive Rolle gespielt hatte. Dies führte dazu, dass der Rechtsprofessor
Carl Ludwig 1957 im Auftrag des Bundesrates einen Bericht zur Politik
der Schweizer Behörden vorlegte. Seit den 80er Jahren beschäftigen
sich die Historikerinnen und Historiker intensiv mit der schweizerischen
Flüchtlingspolitik, so dass zu zahlreichen Fragen fundierte Untersuchungen
vorliegen. Die Kommission hielt es für ihre Aufgabe, diese neuen
Forschungsergebnisse zusammenzufassen. Deshalb steht im Bericht manches,
was in Fachkreisen schon seit einiger Zeit bekannt ist. Gleichzeitig präsentieren
wir neue Fakten zu verschiedenen Themen. Wie es das Mandat des Bundesrates
verlangt, haben wir zudem bei der Untersuchung finanzieller Fragen einen
unserer Schwerpunkte gesetzt.
Was ist in
methodischer Hinsicht neu am Bericht?
Der Bericht stellt die vom Nationalsozialismus verfolgten Menschen ins
Zentrum.
Dies hat zwei Auswirkungen: Erstens untersuchen wir neben dem Handeln
der Behörden auch die Auswirkungen der schweizerischen Flüchtlingspolitik
auf die davon betroffenen Menschen. Wir räumen den Flüchtlingen,
ihrem Schicksal, ihrer Not und ihren Hoffnungen den gebührenden Platz
ein. Ein wichtiges methodisches Verfahren ist deshalb die Untersuchung
von Einzelfällen und die Darstellung einzelner Schicksale. Wir präsentieren
die Fallbeispiele aber nicht nur, um die damalige Problematik zu veranschaulichen.
Der genaue Blick auf den Einzelfall ermöglicht auch neue Erkenntnisse
über die konkreten Abläufe, so z. B. bei Entscheidungsprozessen
oder bei Rückweisungen an der Grenze. Dies gibt Aufschluss über
die Handlungsspielräume der Flüchtlinge ebenso wie der Entscheidungsträger
in den Behörden, der Grenzbeamten sowie jener zahlreichen Menschen,
die den Flüchtlingen halfen.
Zweitens stehen jene Flüchtlinge im Zentrum, die vom Nationalsozialismus
verfolgt wurden. Das heisst, der Orientierungshorizont unseres Berichtes
sind weniger der Krieg und all die Menschen, die infolge der kriegerischen
Ereignisse in der Schweiz Schutz suchten. Im Zentrum stehen vielmehr die
Opfer der deutschen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Damit ist unser
Bericht Teil der internationalen Geschichtsforschung, die im Holocaust
einen entscheidenden Bruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts
sieht.
Bereits vor der Veröffentlichung des Berichtes wurde Kritik laut,
wir würden das internationale Umfeld nicht berücksichtigen.
Dieser Vorwurf ist nicht stichhaltig. Es gilt, zwei Dinge zu unterscheiden,
nämlich die Frage der internationalen Vergleichbarkeit und
die Frage der Einbettung des Berichtes in den damaligen internationalen
Zusammenhang. Die Kommission hat die Frage der Vergleichbarkeit der schweizerischen
Flüchtlingspolitik mit derjenigen anderer Staaten beispielsweise
Spaniens, Schwedens oder der USA selbstverständlich diskutiert.
Sie hat aus zwei Gründen auf einen Vergleich verzichtet. Erstens
ist der Forschungsstand, unter anderem auch die Qualität der zur
Verfügung stehenden Zahlen über die Aufnahme und Wegweisung
von Flüchtlingen, in den verschiedenen Staaten so unterschiedlich,
dass ein aussagekräftiger Vergleich, der nicht bloss Zahlen gegeneinander
aufrechnet, kaum möglich ist. Zweitens war die geographische Lage
sowie die militärische, politische und ökonomische Situation
der einzelnen Staaten je nach Zeitpunkt sehr verschieden; bei einem Vergleich
wären enorm viele Variablen zu berücksichtigen, und es ist zu
bezweifeln, ob beispielsweise im Sommer 1942 irgendein Staat in einer
mit der Schweiz vergleichbaren Lage war.
Eine andere Frage ist die Berücksichtigung des internationalen
Umfelds. Hierzu liefert der Bericht in den beiden einleitenden Kapiteln
zahlreiche Grundlagen. Er geht von der deutschen Aggressionspolitik nach
dem Machtantritt Hitlers aus; er schildert die zunehmende Verfolgung der
Juden und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft sowohl
gegenüber dem Dritten Reich als auch gegenüber den Flüchtlingen.
Im ganzen Bericht wird grosses Gewicht auf zeitliche Differenzierungen
gelegt. Es wird klar unterschieden zwischen der Flüchtlingspolitik
vor Kriegsbeginn, als im Sommer 1938 in Evian die demokratischen Staaten
versagten, der ersten Kriegshälfte, als NS-Deutschland von Sieg zu
Sieg marschierte und zugleich von der Vertreibungs- zur Vernichtungspolitik
überging, und der zweiten Kriegshälfte, als der Sieg der Alliierten
absehbar wurde. Das internationale Umfeld wird also systematisch berücksichtigt,
und es wird die spezifische Rolle der Schweiz in diesem Umfeld betrachtet:
Für die Schweiz spezifisch waren ihre Neutralität und die damit
verbundenen humanitären und diplomatischen Aufgaben, ihre Asyltradition,
ihre Bedeutung als Finanzplatz und ihre ab 1942 zunehmende Isolation.
Nun zu
den Ergebnissen.
Für die schweizerische Flüchtlingspolitik waren zwei Jahre
von zentraler Bedeutung. 1938 war die Schweiz an der Kennzeichnung der
Pässe deutscher Juden durch den «J»-Stempel beteiligt, und im August
1942 schloss sie die Grenze für Flüchtlinge «nur aus Rassegründen».
Angesichts der Massenflucht, die nach dem «Anschluss» Österreichs
im Frühjahr 1938 einsetzte, suchte die Schweiz nach Wegen, um die
Flüchtlinge fernzuhalten. Als die ehemaligen österreichischen
Staatsangehörigen deutsche Pässe erhielten, erwog sie die Einführung
einer allgemeinen Visumspflicht für alle Deutschen. Dagegen sprachen
aus Schweizer Sicht allerdings wirtschaftliche und politische Überlegungen.
Deutschland befürchetete, seine Nachbarstaaten könnten in diesem
Fall dem Schweizer Beispiel nachfolgen und ebenfalls die Visumspflicht
einführen. Dies hätte die Beziehungen Deutschlands zu seinen
Nachbarstaaten sehr beeinträchtigt. Deshalb traten die deutschen
Behörden auf den von Schweizer Seite vorgebrachten Vorschlag ein,
eine diskriminierende, auf deutsche «Nichtarier» beschränkte Kennzeichnung
der Pässe vorzunehmen. Die Bestimmung des Kennzeichens ein
Stempel mit Text, rot unterstrichene Namen oder ein «J» war nach
der grundsätzlichen Einigung nur noch eine Frage technischer Details.
Obwohl der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung, Heinrich Rothmund,
auf die rechtliche und ethische Fragwürdigkeit der Kennzeichnung
hinwies, hiess der Bundesrat sie einstimmig gut. Damit legte die Schweiz
ihrer Einreisepraxis die in den deutschen Gesetzen begründeten rassistischen
Kriterien über die Bestimmung von «Ariern» und «Nichtariern» zugrunde,
und sie stimmte einer Vereinbarung zu, die auch die Kennzeichnung der
Pässe von Schweizer Juden prinzipiell ermöglichte. Für
deutsche Juden hatte das «J» zur Folge, dass ihre Ausreise auch in andere
Länder erschwert oder verunmöglicht wurde.
Im Sommer 1942 war die Situation grundlegend anders. Die Schweiz war
ausser an der Südwestgrenze von den Achsenmächten umschlossen,
und die Versorgungslage war angespannt. Der Bericht zeigt, auf welchen
Wegen Informationen über die deutschen Massenmorde in die Schweiz
gelangten. Es war schwierig, zuverlässige Informationen von Gerüchten
zu unterscheiden. Ausserdem war von Verbrechen die Rede, die viele für
kaum vorstellbar hielten. Dennoch besteht kein Zweifel: Der Bundesrat,
das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement und die Spitzen
der Armee wussten im Sommer 1942, dass den zurückgewiesenen Flüchtlingen
die Deportation nach Osteuropa und damit der Tod drohte. Deshalb protestierten
der Schweizerische Israelitische Gemeindebund, die Hilfswerke und Teile
der Bevölkerung gegen die Grenzschliessung. Damals, im September
1942, erreichte die Kritik der Presse an der Flüchtlingspolitik einen
Höhepunkt. Die systematische Auswertung von acht Zeitungen, die unter
der Leitung von Professor Kurt Imhof vorgenommen wurde, zeigt allerdings,
dass diese öffentliche Diskussion nur sehr kurz dauerte. Insgesamt
war die Flüchtlingspolitik ein Randthema der Medien. Die Presse stellte
kaum eine Verbindung zwischen dem Schicksal der Flüchtlinge und den
deutschen Verfolgungsmassnahmen her und blendete weitgehend aus, dass
es sich bei den Flüchtlingen in erster Linie um Juden handelte.
Die Grenzschliessung im Sommer 1942 wurde unter anderem mit der Ernährungslage
gerechtfertigt. Die Quellen belegen jedoch, dass weder die Ernährungslage
noch militärischer oder politischer Druck von aussen bei der Grenzschliessung
eine entscheidende Rolle spielten. Es stellt sich also die Frage, weshalb
die Schweiz trotz des Wissens und ohne zwingende Not in den folgenden
Monaten Tausende von Flüchtlingen zurückwies und sich in die
nationalsozialistischen Verbrechen verstrickte, indem sie Flüchtlinge
ihren Verfolgern preisgab.
Wir sehen im Antisemitismus einen wichtigen Grund dafür, dass die
Verfolgung der Juden entweder nicht richtig wahrgenommen wurde oder aber
aus dem Wissen keine Konsequenzen zugunsten der Opfer erfolgten. Dies
zeigt sich deutlich im Vergleich zur Politik gegenüber jenen Flüchtlingen,
die vor den Folgen der Russischen Revolution geflohen waren und in der
Schweiz Aufnahme sowie finanzielle Unterstützung gefunden hatten.
Während sich hier der allgemein verbreitete Antikommunismus zugunsten
der Flüchtlinge ausgewirkt hatte, war die Ablehnung der jüdischen
Flüchtlinge durch eine weit verbreitete antisemitische Grundhaltung
motiviert. Im Gegensatz zu Deutschland wurde der Antisemitismus in der
Schweiz jedoch nicht rassenbiologisch, sondern kulturell, sozial und politisch
begründet, und er knüpfte an Formen christlicher Judenfeindschaft
an. Er war eingebettet in eine Bevölkerungspolitik, die seit dem
Ersten Weltkrieg gegen die «Überfremdung» der Schweiz und insbesondere
gegen die sogenannte «Verjudung» kämpfte. Die Behörden erklärten,
die Schweizer Juden schützen zu wollen. Die osteuropäischen
Juden lehnten sie dagegen ausdrücklich ab, da sie diese für
«unassimilierbar» hielten. In der Praxis waren Juden generell, ob sie
aus Osteuropa oder aus den Nachbarstaaten der Schweiz stammten, unerwünscht.
Die Entscheide der Behörden in den Jahren 1938 und 1942 waren also
nicht bloss unbedachte Reaktionen in einer ausserordentlichen Krisensituation,
sondern sind im Zusammenhang einer mentalen Disposition und einer langfristigen
Politik zu sehen.
Der Bericht widmet der Flucht aus dem Verfolgerstaat, der Grenzsituation
mit all ihren Gefahren, den Abweisungen der Flüchtlinge und den Aufenthaltsbedingungen
der aufgenommenen Flüchtlinge besondere Aufmerksamkeit. Mit der Rekonstruktion
der Wege zahlreicher Flüchtlinge entsteht ein differenziertes Bild.
Für viele Tausende endete die Flucht bereits bei den diplomatischen
Vertretungen der Schweiz im Ausland, als sie erfuhren, dass sie keinerlei
Aussicht auf eine Einreisebewilligung hatten. Es gab allerdings auch schweizerische
Konsulatsangestellte und Beamte, die sich für die Flüchtlinge
engagierten und grosszügig Einreisebewilligungen erteilten. Ihr Verhalten
wurde jedoch, da es gegen die Vorschriften verstiess, sanktioniert.
Entscheidend war, dass die Schweiz abgesehen von den sogenannten
Härtefällen ab 1938 generell alle jüdischen Flüchtlinge
an der Grenze zurückwies. Zugleich aber wies sie jene Flüchtlinge,
die einen mehrere Kilometer breiten Grenzstreifen illegal überquert
hatten und ins Landesinnere gelangt waren, in der Regel nicht mehr aus.
Damit rückt die Grenze ins Zentrum des Geschehens, wo sich äusserst
dramatische Szenen abspielten. Der Bericht zeigt, dass zahlreiche Privatpersonen
und Organisationen, sowohl im Ausland als auch in der Schweiz, den Flüchtlingen
beim Grenzübertritt und dem Weg ins Landesinnere halfen. Es gab Grenzbeamte,
die sich in Gewissenskonflikten befanden und sich über die Vorschriften
hinwegsetzten. So nahm die Schweiz während des Krieges über
51 000 Flüchtlinge auf, wovon rund 20 000 Juden waren.
Die Rückweisungen und Ausschaffungen im Kanton Genf im Herbst 1942
machen jedoch deutlich, dass auch das Gegenteil der Fall war. Hier wurden
Flüchtlinge gewaltsam ausgeschafft und zum Teil direkt ihren Verfolgern
übergeben. Es ist festzuhalten, dass die Verantwortlichen für
ihr unrechtmässiges Vorgehen später gerichtlich verurteilt wurden.
Die Kommission sieht in diesen Vorfällen jedoch nicht ein zufälliges,
unerklärliches Fehlverhalten und betrachtet das Geschehen in seinem
grösseren Zusammenhang: Im Kanton Genf befanden sich wichtige Grenzübergänge,
er war im Herbst 1942 der eigentliche Brennpunkt des Geschehens. Und die
Behörden in Bern schritten erst nach einigem Zusehen ein, da sie
sich von einem harten Durchgreifen abschreckende Wirkung erhofften.
Die Untersuchung finanzieller Fragen der Flüchtlingspolitik steht
im Zusammenhang der nationalsozialistischen Beraubungspolitik, der Wirtschaftskrise
der 1930er Jahre und des Wirtschaftskrieges ab 1939. Von 1937 bis 1940
wurden zuerst die Emigranten und später alle nichtdeutschen Ausländer
in der Schweiz aus dem schweizerisch-deutschen Zahlungsverkehr ausgeschlossen.
Das schweizerische Interesse, die knappen Clearingmittel für die
Bedürfnisse der eigenen Volkswirtschaft zu reservieren, und das Interesse
der Deutschen am Zugriff auf die Vermögen der Flüchtlinge ergänzten
einander. Die Kosten für die Flüchtlinge trugen bis 1942 zur
Hauptsache die Hilfswerke. Sie gaben von 1933 bis 1947 um die 70 Millionen
Franken aus. Den grössten Teil, nämlich 46 Millionen Franken,
übernahm der Verband schweizerischer jüdischer Flüchtlingshilfen
(VSJF), der mehr als die Hälfte seiner Mittel vom American Jewish
Joint Distribution Committee erhielt.
Als die USA im Juni 1941 die kontinentaleuropäischen Guthaben blockierten,
stellten sich für den Transfer von Hilfsgeldern zahlreiche neue Probleme.
Sowohl auf amerikanischer als auch auf schweizerischer Seite wurden die
Bedürfnisse der Hilfswerke und der Flüchtlinge hinter die kriegswirtschaftlichen
Interessen zurückgestellt. Wir weisen in diesem Zusammenhang auf
unser Beiheft zu den Lösegelderpressungen in den besetzten Niederlanden
hin. Diese Studie verdeutlicht das Dilemma zwischen wirtschaftlicher Kriegführung
und den Versuchen, Juden aus dem nationalsozialistischen Machtbereich
freizukaufen. Zudem zeigt sich, dass der schweizerische Finanzplatz bei
den deutschen Lösegelderpressungen eine zentrale Rolle spielte.
Bei der Übernahme von Dollars wird deutlich, wie die Schweiz die
Situation der Flüchtlinge zusätzlich erschwerte. Vom Mai 1942
bis Ende 1943 nahm die Schweizerische Nationalbank für das American
Jewish Joint Distribution Committee keine Dollarüberweisungen entgegen,
und Flüchtlingen, die nach dem 1. Januar 1942 illegal in die Schweiz
geflohen waren, war es nicht mehr möglich, Unterstützungszahlungen
aus den USA zu erhalten.
Vor diesem Hintergrund erhält die damalige Diskussion um die Kosten
für die Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge eine neue
Dimension. Die Kommission geht in ihrem Bericht keineswegs davon aus,
dass die Schweiz sämtliche Kosten hätte übernehmen sollen
dies wäre angesichts der damaligen Verhältnisse, als
es beispielsweise noch keine staatliche Rentenversicherung (AHV) gab
eine ahistorische Betrachtungsweise. Sie hält auch fest, dass der
Bund ab 1942 sein finanzielles Engagement massiv erhöhte und bis
1950 über 128 Millionen Franken für die Flüchtlingspolitik
ausgab. Die detaillierte Untersuchung verschiedener vermögensrechtlicher
Massnahmen zeigt jedoch, dass die finanziellen Fragen in die gesamte Flüchtlingspolitik
eingebettet waren und zur Abwehr der Flüchtlinge instrumentalisiert
wurden.
Die Kommission hat den juristischen Fragen der damaligen Flüchtlingspolitik
besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das entsprechende Gutachten kommt
zum Schluss, dass die grossen Leitlinien der schweizerischen Flüchtlingspolitik
den damals geltenden landesrechtlichen und völkerrechtlichen Normen
nicht widersprachen. Aus heutiger Sicht wäre dies in manchen Bereichen
anders, da seit dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise mit der Verankerung
des non-refoulement-Prinzips den Schutzansprüchen des Individuums
auf Kosten der Autorität des Staates deutlich mehr Gewicht eingeräumt
wurde. Allerdings ist festzuhalten, dass die Gesetze hätten geändert
werden können und Ermessensspielräume boten. Dass diese nicht
zugunsten der Flüchtlinge genutzt wurden, war ein politischer Entscheid.
Das Gutachten von Prof. Walter Kälin geht ausführlich auf
verschiedene juristisch fragwürdige Aspekte ein und hält überdies
fest, dass sich viele Fragen nur auf Grund der Kenntnis der damaligen
Praxis definitiv beantworten lassen. Unser Bericht zeigt, dass die Behörden
keineswegs frei von autoritären Tendenzen waren und sich in einigen
Fällen ohne weiteres über juristische Bedenken hinwegsetzten.
Dies gilt insbesondere in Bezug auf das Abkommen über den «J»-Stempel.
Es gilt aber auch für den Umgang mit staatenlosen Flüchtlingen,
die ihren diplomatischen Schutz verloren hatten, weshalb die Behörden
hier keine aussenpolitischen Komplikationen befürchten mussten. In
rechtlicher Hinsicht liegt das zentrale Problem im Verhältnis der
schweizerischen Verwaltungspraxis zu den deutschen Rassegesetzen. Indem
die Schweiz im Oktober 1938 ihrer Einreiseregelung die deutschen Bestimmungen
über «Arier» und «Nicht-Arier» zugrundelegte und indem sie 1941 die
ausgebürgerten, in der Schweiz niedergelassenen deutschen Juden als
Staatenlose behandelte, womit sie deren Ausbürgerung anerkannte,
verstiess sie gegen den Ordre public, das heisst gegen die Grundsätze
der schweizerischen Rechtsordnung.
Schliesslich haben wir in unserem vierten Beiheft die Frage untersucht,
ob Juden durch die Schweiz nach Osteuropa deportiert wurden. Aufgrund
der vorliegenden Fakten können wir ausschliessen, dass Juden aus
Italien und Frankreich durch die Schweiz in die Vernichtungslager deportiert
wurden.
Sie sehen, wir präsentieren viele Fakten. Sie zu sortieren, zu
ordnen und in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, heisst ein
Stück weit auch, sie zu interpretieren. Der Historiker würde
seine Aufgabe nicht erfüllen, wenn er nicht versuchte, zu erklären.
Selbstverständlich steht jede Interpretation zur Diskussion. Wir
begrüssen es, wenn auf Grund unseres Berichtes eine Debatte entsteht.
Eine Debatte, die nicht auf Vorurteilen oder Mythen beruht, sondern auf
der Kenntnis der Fakten, die unser Bericht präsentiert.