Einleitungsreferat von Prof. Jean-François Bergier, Präsident der UEK, an der Pressekonferenz vom 30. August 2001


(Es gilt das gesprochene Wort)


Heute ist ein wichtiger Tag. Mit den vorliegenden acht Studien präsentiert die Unabhängige Expertenkommission der schweizerischen Bevölkerung und dem internationalen Publikum mit Ihrer Hilfe den ersten Teil ihres Schlussberichtes. Die neun anderen Studien sowie einige ergänzende Beiträge werden in den kommenden Monaten erscheinen. Die Synthese dieser Arbeiten wird Ende Jahr dem Bundesrat vorgelegt und wie vorgesehen im Frühjahr 2002 veröffentlicht. Die Untersuchungen stellen den Kontext zu jedem behandelten Thema dar, aber natürlich wird erst die Synthese den Gesamtkontext in grossen Zügen umreissen.

Acht Studien: Die Auswahl ist willkürlich und weder durch Priorität noch durch innere Logik begründet. Praktische Gründe der Herausgabe zwangen zu einer etappenweisen Veröffentlichung, und die heute präsentierten Texte waren als erste für die Publikation bereit. Die acht Studien wurden bis auf eine von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kommission und unter Leitung derselben erstellt. Die Ausnahme macht die Presseanalyse zur Flüchtlingsfrage und zur Wirtschaftsaussenpolitik, die auf unser Ersuchen von Professor Kurt Imhof und seinem Team von der Universität Zürich verfasst wurde.

Von Dezember 1996 bis August 2001, das sind gut viereinhalb Jahre. Dieser Zeitraum mag jenen als lang erscheinen, die ungeduldig darauf warten zu erfahren, welcher Art die kontroversen Aspekte des Verhaltens der Schweiz oder der Schweizerinnen und Schweizer während und nach dem 2. Weltkrieg gewesen sein mochten. Lang waren diese Jahre vielleicht auch für jene, die eine getrübte Vergangenheit vergessen und endlich eine neue Seite aufschlagen wollen oder sich nur an das mythisch überhöhte Bild erinnern möchten, das sie sich von der Schweiz während der Kriegsjahre gemacht haben. Lang erscheint die Dauer sicher auch jenen, welche die Bedingungen und wissenschaftlichen Ansprüche historischen Forschens verkennen: die Masse der zu untersuchenden Archivbestände, die Komplexität der zu formulierenden Hypothesen, die anschliessend verifiziert, überarbeitet und nuanciert werden wollten, die Lücken, die so gut wie möglich zu füllen waren und schliesslich die Formulierung und Gewichtung der gesammelten Informationen. Ein Geduldsspiel im Wettlauf mit der Zeit.

Waren die knapp fünf Jahre zu lang für die einen, so waren sie für uns reichlich kurz. Zu kurz im Grunde, um alle relevanten Fragen zu stellen und zu beantworten. Wir sind uns bewusst, dass bei den meisten der von uns angegangenen Themen noch viel zu tun bleibt. Eine historische Untersuchung kann nie als abgeschlossen und definitiv betrachtet werden. Die Zeitknappheit hatte jedoch noch eine weitere Folge: Es war uns nicht in ausreichendem Masse möglich, zu den von uns festgestellten Tatsachen die wünschbare Distanz einzunehmen und in jedem Fall das Wesentliche vom weniger Wesentlichen zu unterscheiden. Die Anhäufung von Daten, Zahlen, Anekdoten und Zitaten trübte uns manchmal den Blick für die grossen Züge, so dass wir sozusagen vor lauter Bäumen den Wald nicht sahen und der rote Faden verloren ging. Mit anderen Worten: Es war nicht möglich, uns kürzer zu fassen. Leserinnen und Leser, die sich auf die Lektüre dieser Studien einlassen, werden wahrscheinlich den Eindruck haben, darin zu ertrinken. Auch sie brauchen Geduld und kritisches Unterscheidungsvermögen.

Wir haben allerdings kein schlechtes Gewissen, dem Publikum eine solche Masse an Informationen von unterschiedlicher Bedeutung und Wichtigkeit zu präsentieren. Nebst dem Argument der zu kurzen Frist haben wir einen anderen guten Grund. Der grösste Teil der von uns vorgelegten Informationen stammt aus Firmenarchiven, von denen wir nicht wissen, ob sie je wieder zugänglich sein werden, und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen. Welches auch immer die Mängel unserer Arbeit sein mögen, auf welche die Leserschaft und Historiker-Kollegen eilfertig hinweisen werden: In jedem Fall bieten wir eine wahre Fundgrube an soliden Daten und Informationen, von denen die zukünftige Forschung profitieren wird. Denn eines wird man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UEK mit Bestimmtheit nicht vorwerfen können: faul, nachlässig oder schlecht gesinnt gewesen zu sein.

Wie oft habe ich wiederholt - und andere mit mir - dass HistorikerInnen sich nicht zu Richtern oder Moralisten erheben dürfen. Ihre Aufgabe ist es, zu zeigen, zu erzählen, zu erklären. Aber auch HistorikerInnen sind Menschen und mithin empfindsam. Auch sie haben ihre Vorlieben und Abneigungen. Warum soll man diese innerhalb der Grenzen der Objektivität nicht mitteilen, ohne dabei das Gewissen der Leserschaft zu strapazieren? Nun wollte es aber das Mandat der Kommission, dass ihre Mitglieder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich mit einer Anzahl spezifischer Probleme zu beschäftigen hatten, die im Laufe der letzten Jahre für Aufruhr gesorgt haben und häufig in einem emotionalen und politisierten Klima diskutiert wurden - Probleme, die zu Recht oder zu Unrecht die Rechtschaffenheit, die Absichten und das Verhalten der Schweiz (oder zumindest einiger ihrer wichtigen Entscheidungsträger) während des Kriegs und in den Jahren danach hinterfragten. Wir befanden uns also und befinden uns immer noch auf glattem Parkett.

Unsere Pflicht ist es nun, darüber zu berichten, was wir gefunden haben. Gewisse Tatsachen, ein bestimmtes Verhalten und Ansinnen sind für uns heutige Beobachtende ganz sicher überraschend, enttäuschend oder machen uns perplex. Wir berichten von Handlungen (oder Unterlassungen wie die Nachlässigkeit der Banken im Umgang mit nachrichtenlosen Vermögen oder die fehlende Kontrolle von Transitgütern durch die Schweiz) und Entscheidungen, die negative Folgen für die Schweiz hatten, sich auf den Kriegsverlauf auswirkten oder Konsequenzen für den Besitz vieler Menschen und sogar (im Falle der zurückgewiesenen Flüchtlinge) für deren Leben hatten. Mit solchen Ergebnissen war zu rechnen, und zudem war ein Teil schon bekannt. Denn weshalb hätten gerade die Schweiz und die schweizerische Bevölkerung tugendhafter und klarsichtiger sein sollen als alle anderen Staaten und Völker?

Nur in den seltensten Fällen wurde aus reiner Bosheit oder aus blinder ideologischer Überzeugung gehandelt. Die öffentlichen Akteure (Staat und Verwaltung) dienten in der Regel aufrichtig, ergeben und manchmal mit beträchtlichem Einsatz den Landesinteressen, so wie sie diese auffassten. Mag sein, dass sie sich irrten, sich in der Routine verloren oder der Ängstlichkeit gehorchten. Die privaten Entscheidungsträger, das heisst die Unternehmer (Bankiers, Versicherer, Industrielle, Händler usw.) achteten natürlich in erster Linie auf den Gang des eigenen Geschäfts und auf dessen Zukunft. Interessenkonflikte zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor waren ebenso unvermeidlich wie zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen - beispielsweise, um von den Clearingoperationen zwischen der Schweiz und Deutschland oder Italien zu profitieren. Ab 1940 waren diese Unternehmer ganz und gar von den wechselnden Vorstellungen über die Nachkriegsperspektive beherrscht - einer Perspektive, die sie selten richtig vorweglzunehmen verstanden. Sie richteten ihre Strategien aber einzig nach solchen Betrachtungen aus, entschieden über ihre mehr oder weniger überzeugte Teilnahme an den Kriegswirtschaften der Achsenmächte und/oder der Alliierten. Nur ganz wenige zogen sich vollständig vom deutschen Markt zurück. Wenige waren es aber auch, die grosse Vorteile aus der Situation zogen und veritable Kriegsgewinne anhäuften.

Alle waren sie natürlich zum einen geprägt von den traumatisierenden und noch frischen Erfahrungen der "Grande Guerre", des 1. Weltkrieges also, und den Krisen der 1920er und 1930er Jahre und zum andern von ihrer Kultur, ihrer Mentalität und dem herrschenden Zeitgeist. Dazu kamen diffuse Ängste, die in der ganzen westlichen Gesellschaft verbreitet waren: Angst vor dem Bolschewismus (der eine Totalitarismus kann einen andern verdecken); Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen; Angst vor dem Fremden, vor Menschen mit anderen Sitten, anderer Kultur oder anderer Religion. Von daher stammte auch der verbreitete Antisemitismus der Epoche; von daher stammte der Wunsch nach Ordnung, nicht nach einer totalitären zwar (unvereinbar mit schweizerischem Bewusstsein), aber nach einer relativ autoritären, Sicherheit vermittelnden ständischen Gesellschaftsordnung.

Die Kompromisse und Zugeständnisse, auf die sich öffentliche und private Führungspersonen der Schweiz einlassen mussten oder zu müssen glaubten, brachten das Land nicht von seinem Willen nach Unabhängigkeit, nach Demokratie und Föderalismus ab. Im Gegenteil, man sah in einer pragmatischen Politik und in prekären Gleichgewichten die Garanten für die Werte, an denen ein Grossteil der Bevölkerung festhielt. "Anpassung oder Widerstand": Das war damals ein falsches Dilemma, denn es handelte sich um Widerstand in Form von Anpassung, die wie ein Risiko kalkuliert wurde. Das wahre Dilemma, das nicht vollständig gelöst wurde, war die Frage, bis zu welchem Punkt die Anpassung dieses Risiko bannen würde.

Es bleibt mir zu danken. In erster Linie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kommission. Sie sind die Handwerker der Studien, einer Arbeit, die einen Markstein setzen wird. Sie haben ihre Aufgabe unter schwierigen Bedingungen erfüllt, sowohl in intellektueller, psychologischer und moralischer Hinsicht. Sie haben ihre Aufgabe mit Mut, Elan und guter Urteilskraft erfüllt, und sie haben sie sehr gut erfüllt. Ich möchte dies hervorheben, denn es sind die Mitarbeiter, denen der Verdienst dieser Arbeit zukommt. Ich danke im Weiteren allen Archivangestellten und anderen Personen, die uns mit Ratschlägen und Hilfestellungen unterstützt haben. Ich danke den Firmen, die unsere Anwesenheit in ihren Archiven toleriert, uns ermuntert und auch kritisiert haben. Sie haben die sie betreffenden Passagen unserer Studien gelesen und uns auf Fehler aufmerksam gemacht; wir behalten aber die volle Verantwortung für alles, was wir betreffend dieser Firmen geschrieben haben. Schliesslich danke ich den Medien, die sich die Mühe genommen haben, unsere Ergebnisse und Erfahrungen der Öffentlichkeit zu präsentieren und das Interesse an unserer Aufgabe wachgehalten haben. Sie haben eine Erwartung geschaffen, und wir hoffen, diese nicht zu enttäuschen.