Einleitungsreferat von Dr. Helen B. Junz an der Pressekonferenz vom
29. November 2001


(Es gilt das gesprochene Wort)


Als jüngstes Mitglied im Bunde bin ich wahrscheinlich am wenigsten geeignet, in die Reihe von Studien einzuführen, die uns heute hier zusammengeführt haben.
Vielleicht aber ist es nützlich, Ihnen - genau drei Wochen weniger einen Tag, bevor die Arbeit der Kommission beendet ist und sie ihren Bericht dem Parlament vorlegt - ein Gefühl dafür zu geben, wie ein Neuling - und noch dazu eine Nichtschweizerin - diese Arbeit sieht. Wahrscheinlich ist es aber noch wichtiger, sich zu überlegen: wie geht man allgemein mit den Fragen um, mit deren Untersuchung die Kommission beauftragt wurde. Denn mögen sich im Laufe der Zeit auch die Antworten in dem Masse ändern wie unsere Erkenntnis wächst, so bleiben doch die dahinter stehenden Fragen unverändert. Deshalb mag es wohl sein, dass der wichtigste Beitrag, den Ihre Regierung mit der Einsetzung der Kommission - und die Kommission mit ihrem Einsatz - geleistet hat, darin liegt, dass ein halbes Jahrhundert lang totgeschwiegene Fragen endlich gestellt worden sind.
Wie ich schon bei unserem letzten Treffen sagte, ist das Bemerkenswerte an der ganzen Sache, dass die Schweiz in ihrem Bestreben, die Tatsachen aus der Zeit des Holocaust ans Tageslicht zu bringen, nicht allein geblieben ist. Heutzutage bestehen 25 nationale Kommissionen, die untersuchen - oder untersucht haben -, wie ihr Land mit den Problemen der Ära des Holocaust umgegangen ist. Allerdings mit einem Unterschied: die Schweiz war das erste Land, das eine solche Kommission einsetzte, und sie gab ihr ein umfangreicheres Mandat als jedes andere Land.
Natürlich gab das zu neuen Fragen Anlass. So fragten zu Beginn viele hier: "Warum die Schweiz?" und eine noch grössere Zahl wollte wissen: "Warum trifft gerade der Schweiz so harte Kritik ?" Die Frage, warum gerade die Schweiz ins Visier genommen wurde, vermag ein Aussenseiter vielleicht leichter zu beantworten. Man darf ja nicht vergessen, dass sich die Schweiz als ein Zentrum für Vermögensverwaltung damals aktiv bemühte, Gelder anzuziehen, die nach einem Zufluchtsort suchten - safe haven - ein Ausdruck, der später eine besondere Bedeutung bekommen sollte, der aber die dahinter liegenden Motivationen genau beschreibt. Verbunden damit war ein besonders starker Schutz für Eigentumsrechte und - das steht einzig da - für Anonymität. Zwei der heute vorgelegten Studien befassen sich mit dieser Materie. Vergessen wir auch nicht, dass die Schweiz in diesem Rahmen einer nicht ansässigen Bevölkerung diente. Das führte dazu, dass es später im Lande selbst keine Interessengemeinschaft gab, die sich um die Lösung von Nachkriegsproblemen, die dem Holocaust entstammten, bemühte. Und diese Lösung benötigte eine Unterbrechung von busines as usual. Ganz anders war es dagegen in den ehemals besetzten Gebieten. Deren Nachkriegsregierungen waren sofort mit den Problemen der Rückführung und Rückerstattung von Vermögenswerten konfrontiert. Zu untersuchen, inwieweit sie diesen Fragen gerecht wurden, war - oder ist - die Aufgabe ihrer nationalen Kommissionen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen deutlich, dass auch diese Länder die Probleme nicht in ihrem vollen Umfang gelöst hatten. Dennoch waren sie zumindest ein Stück des Weges gegangen. Anders jedoch die Schweiz, die aus welchen Gründen immer, sich nie ernstlich auf diesen Weg begeben hatte, obwohl sie ein starker Anziehungspunkt für die genannten Vermögenswerte gewesen war. In dieser Hinsicht war sie vergleichbar mit den Vereinigten Staaten, die ebenfalls ein Zufluchtsort für Vermögenswerte von Verfolgten gewesen waren. Doch gab es da auch grosse Unterschiede: erstens flossen die Vermögenswerte, die vor oder während dem Krieg in die Vereinigten Staaten gelangt waren, zum grossen Teil in ihre Ursprungsländer zurück und mit ihnen auch die irgendwie damit verbundenen Restitutionsprobleme; zweitens waren recht umfangreiche Interessengruppen der Betroffenen in den Vereinigten Staaten selber ansässig. Nichtsdestoweniger blieben auch dort sehr viele Fragen offen, und erst 1999, zwei Jahre nach der Geburtsstunde der UEK, setzten auch die USA eine Kommission ein, die prüfen sollte, wie man dort mit den Vermögenswerten aus der Zeit des Holocaust umgegangen war.
Gewiss spielten auch viele andere Faktoren eine Rolle, doch einer der wichtigsten Gründe dafür, dass man mit dem Finger auf Ihr Land zeigte, war sicher die Tatsache, dass sich die Schweiz nie ernstlich mit der Frage befasst hatte und dass es kaum einen Zweifel gab, dass so manches unerledigt geblieben war. Aber warum geschah das alles mit solcher Virulenz?
Meiner Ansicht nach hängt auch das damit zusammen, dass man die grundlegenden Fragen, wie die Schweiz mit den Opfern des Holocaust und ihren Vermögenswerten umgegangen war, ein halbes Jahrhundert lang ignoriert hatte. Im Laufe der Zeit hatten sich zwei Perspektiven hinsichtlich der Rolle der Schweiz während der Nazizeit eingebürgert. Wenn Sie wollen, eine Frosch- und eine Vogelperspektive. Aus der einen wird die Schweiz als Land betrachtet, in dem lauter Profitmacher sich ausschliesslich für ihre "bottom line" interessieren, aus der anderen wird sie als ein tapferes kleines Land angesehen, das den Achsenmächten trotz all ihrer Übermacht in Tat und Geist widerstanden hatte. Ich lasse offen, welches nun die Frosch- und welches die Vogelperspektive ist. Nur eines ist gewiss: keine gibt die richtige Einsicht in die Fakten jener Zeit. Folglich war es die Aufgabe der UEK, die Fakten der Vergangenheit auszuheben und das aufzubauen, was ich eine "Menschen"perspektive nennen möchte.
Ist uns das gelungen? Bitte erwarten Sie auf eine solche Frage keine eindeutige Antwort von einer Ökonomin. Besser gesagt, man sollte die Frage anders stellen: Hätten wir manches anders gemacht, wenn wir jetzt beginnen würden? Obwohl ich mir sehr gut bewusst bin, dass ich erst spät in diese Arbeiten miteinbezogen wurde und selbstverständlich nur für mich selber sprechen kann, so lautet meine eindeutige Antwort: Ja. Aber ich meine nur wenn wir "Ja" sagen können, haben wir unsere Arbeit erfolgreich gemacht. Der Lernprozess war selbst für die Experten unter uns enorm. Ich hoffe, dass wir zumindest zeigen konnten, dass wir die richtigen Fragen gestellt, einige Wissenslücken geschlossen und, was vielleicht am wichtigsten ist, den Weg aufgezeigt haben, auf dem andere die Arbeit weiterführen können.
Wenn ich mir überlege, was uns zu dieser Odysee getrieben hat, so muss ich mich jetzt zu einem gewissen Grad von manchen meiner Mitfahrer trennen. Viele unternehmen diese Reise, weil sie glauben, sie seien diese Arbeit der Erinnerung an die Opfer schuldig. Ich meine aber, dass wir es nicht nur den Opfern, sondern uns selber schulden, diese zuweilen äusserst unbequemen Fragen zu stellen und die Antworten zu suchen.
Und jetzt schulde ich den Raum und die Zeit meinen Kollegen, die Ihnen heute neue Fakten und Einsichten vermitteln wollen.