(Veröffentlichungen der UEK, Band 6, Bestellung direkt beim Chronos Verlag)

Geschäfte und Zwangsarbeit: Schweizer Industrieunternehmen im «Dritten Reich»

Christian Ruch, Myriam Rais-Liechti, Roland Peter

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie untersucht das Agieren einiger ausgewählter schweizerischer Tochtergesellschaften im NS-Raum, also im nationalsozialistischen Deutschland und in den von ihm annektierten und besetzten Gebieten. Zur Zeit der NS-Herrschaft existierten in Deutschland zahlreiche Tochtergesellschaften von Schweizer Unternehmen, wobei davon auszugehen ist, dass sich die meisten in den grenznahen Regionen Badens und Württembergs niedergelassen hatten. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die folgenden Firmen:
- Das Elektronik- und Elektrotechnikunternehmen Brown, Boveri & Cie. (BBC) Mannheim (Kapitel 3.1),
- die im Bereich der Grosschemie aktiven Tochterfirmen der Lonza AG und Aluminium-Industrie-AG (AIAG) (Kapitel 3.2),
- die Niederlassungen der Nahrungs- und Genussmittelunternehmen Nestlé und Alimentana/Maggi (Kapitel 3.3) sowie
- mittelständische Textilbetriebe (Kapitel 3.4).

Wir haben uns für diese Firmen als Gegenstand unserer Untersuchung entschieden, weil sie auf besonders prägnante Weise für das stehen, was als «heimliches Imperium» der Schweiz (Lorenz Stucki) bezeichnet wurde: einen Komplex äusserst erfolgreicher Industrieunternehmen, die durch die grosse Nachfrage nach ihren qualitativ hochwertigen Produkten oft innerhalb kürzester Zeit über die Grenzen expandieren konnten. Alle hier dargestellten Unternehmen waren schon vor 1933 in Deutschland etabliert und verfügten zum Zeitpunkt der «Machtergreifung» über eine solide Marktposition.

Alle von uns näher untersuchten Schweizer Tochterunternehmen fanden unter den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des NS-Regimes (Kapitel 2) zu einem für sie akzeptablen modus vivendi, auch wenn viele, vor allem die devisenrechtlichen Vorschriften, durchaus als lästig empfunden wurden. Es fällt auf, dass präzise und allgemeingültige Richtlinien und Vorschriften der deutschen Behörden in den meisten Belangen fehlten oder durch Ausnahmeregelungen ausser Kraft gesetzt werden konnten, so dass viele Schweizer Tochtergesellschaften vom Neben- und oft genug Gegeneinander im nationalsozialistischen Staat Nutzen zogen.

Ermöglicht wurde der modus vivendi nicht zuletzt dadurch, dass der Informationsfluss zwischen den deutschen Tochtergesellschaften und den Schweizer Mutterhäusern über den gesamten Zeitraum der NS-Herrschaft auf zahlreichen verschiedenen Wegen und in der Regel ohne grössere Probleme funktionierte. Damit ist die in der Nachkriegszeit oft als Rechtfertigung vorgebrachte Behauptung, die Tochterfirmen seien von der Zentrale abgeschnitten gewesen, eindeutig widerlegt. Die Schweizer Direktionen verfügten über alle wichtigen Informationen zur finanziellen und geschäftlichen Situation ihrer Tochtergesellschaften. Erschwert war in einigen Fällen hingegen deren Kontrolle durch das Mutterunternehmen. Ob sie sich durchsetzen liess, hing weitgehend von der Firmenstruktur, den internen Machtverhältnissen und den involvierten Personen ab. Ein guter Informationsfluss zwischen der deutschen Tochtergesellschaft und der Schweizer Firmenleitung musste jedenfalls noch nicht bedeuten, dass letztere reale Kontrollmöglichkeiten besass (Kapitel 5.1).

Als relativ kompliziert erwies sich in vielen Fällen der Devisentransfer in Form der Überweisung von Dividenden, Lizenzgebühren und Regiespesen an die Schweizer Muttergesellschaften. Abgesehen davon, dass die Ausschüttungen von Dividenden in Deutschland ohnehin Restriktionen unterlag, versuchte das Reich den Devisenabfluss in die Schweiz durch eine restriktive Devisenbewirtschaftung und das Clearingsystem einzuschränken, während die Schweizer Unternehmen selbstverständlich an einem Bezug der vollen Beträge interessiert waren. Die Schweizer Behörden versuchten, im Interesse der Schweizer Eigentümer zu intervenieren, indem sie die Klagen einiger Unternehmen in den deutsch-schweizerischen Wirtschaftsverhandlungen zur Sprache brachten (Kapitel 5.2).

Die Frage nach dem Profit aus dem Geschäft im «Dritten Reich» lässt sich nur schwer beantworten. Einerseits ermöglichte es die deutsche Kriegswirtschaft den hier untersuchten Firmen, immer mehr – vor allem für die Wehrmacht – zu produzieren und den Umsatz zu steigern. Andererseits konnten die Schweizer Mutterhäuser aufgrund der restriktiven deutschen Devisenpolitik nur eingeschränkt von diesem Boom profitieren. Allerdings darf der Gewinn nicht nur unter einem kurzfristigen Aspekt betrachtet werden. Auch die Vergrösserung der Produktionsanlagen und der Bau neuer Fabriken stellte, vor allem hinsichtlich der Nachkriegszeit, einen Gewinn beziehungsweise eine Reinvestition dar. Die Kapazitätserweiterungen konnten unter Nutzung der nur schwer transferierbaren Profite ohne Zufluss Schweizer Kapitals vorgenommen werden. Ausserdem konnten sie dazu verwendet werden, das Stammkapital zu erhöhen oder Schulden abzubauen, so dass sich die meisten Tochtergesellschaften nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in einer glänzenden finanziellen und infrastrukturellen Verfassung befanden und deshalb über exzellente Startchancen verfügten. Hinzu kam, dass vor allem die Betriebe in den grenznahen Regionen Süddeutschlands von schweren Zerstörungen verschont blieben.

Auch Schweizer Tochtergesellschaften verloren während des Krieges durch die Einberufungen zur Wehrmacht oder Abgabe von Personal an kriegswichtigere Branchen und Firmen zahlreiche qualifizierte Arbeitskräfte. Sie machten deshalb ebenso wie deutsche Unternehmen von der Möglichkeit des Einsatzes von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen Gebrauch. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die diesen auferlegt wurden, waren vergleichbar mit jenen in deutschen Betrieben. Besonders die schlechte Ernährungslage und die Misshandlung durch deutsches Personal gaben immer wieder Anlass zur Klage. Verantwortlich für diese Missstände war in erster Linie die Firmenleitung vor Ort, denn gerade bei der Betreuung, Unterbringung und Behandlung der Zwangsarbeiter bestanden beträchtliche Ermessensspielräume.

Dass Zwangsarbeiter beschäftigt wurden, war den Schweizer Direktionen bekannt. Ob und wie detailliert sie über deren Lebens- und Arbeitsbedingungen informiert waren, ist jedoch nicht belegt. Sie zeigten in der Regel weder Besorgnis noch Beunruhigung, und so lange die Produktion reibungslos weiterlief, gedachten sie nicht, sich in die Geschäftsführung oder die Personalpolitik ihrer Tochtergesellschaften im NS-Raum einzumischen (Kapitel 4).

Alle hier untersuchten Firmen waren in die deutsche Kriegswirtschaft eingebunden, doch waren einige Branchen naturgemäss von grösserer strategischer Bedeutung als andere. Dies gilt etwa für Rüstungsproduzenten wie die BBC oder Grundstofflieferanten wie die AIAG und die Lonza AG. Man stellt jedoch fest, dass jedes Unternehmen, das sich während des Krieges halten konnte, auf die eine oder andere Weise für die Kriegswirtschaft tätig war. Dies war vor allem in der Phase des «totalen Krieges» die einzige Möglichkeit zu produzieren, Rohstoffe erhalten und über Arbeitskräfte verfügen zu können. Gleichzeitig bot die Integration in einem im Gefolge der vorrückenden Wehrmacht wachsenden Wirtschaftsraum scheinbar endlose Entwicklungsmöglichkeiten. Hier gilt es indessen zu differenzieren: Während die Autarkiepolitik und der wachsende Bedarf für die Maggi GmbH die Chance bot, sich gegenüber der mächtigen deutschen Konkurrenz zu behaupten, hatten die AIAG und die Lonza AG die Möglichkeit, die Kapazitäten zu erhöhen. Unternehmen wie die BBC und die Nestlé versuchten sogar, ihren Geschäftsraum auszuweiten. In ihrem Fall war die Expansion nicht mehr nur das Resultat einer bestimmten Marktlage, sondern auch durch die Ausdehnung des deutschen Herrschaftsraumes bestimmt.

Nach Kriegsende gingen die Alliierten unterschiedlich gegen die Unternehmen vor. Im Gegensatz zu den Demontagen durch die sowjetischen Streitkräfte in Berlin (besonders bei der Sarotti AG) und in der sowjetischen Besatzungszone litten die hier untersuchten Firmen kaum unter Demontagen oder Requisitionen zu Reparationszwecken. Unmittelbar nach Kriegsende inspizierten die drei westlichen Streitkräfte die Industriebetriebe zwar hinsichtlich ihres Beitrags an die deutsche Kriegsproduktion. Je mehr sich jedoch der Kalte Krieg abzuzeichnen begann, um so weniger waren die Westalliierten bereit, die deutsche Industrie zu zerschlagen. Die Schweizer Behörden schenkten der Bewahrung schweizerischen Eigentums grosse Beachtung und intervenierten vor allem auf diplomatischen Wege zugunsten der Firmen. In die Entnazifizierungsverfahren, die ohnehin fast nur Deutsche betrafen, mischten sie sich dagegen nicht ein (Kapitel 6).

Während der gesamten NS-Herrschaft konnten die von uns untersuchten Firmen ihre Eigenständigkeit und ihren privatwirtschaftlichen Charakter bewahren. Gleichzeitig trugen sie durch ihre Produktion und die Beschäftigung zahlreicher Arbeitskräfte zur Erholung und Entwicklung der deutschen Wirtschaft bei und stützten somit das NS-System. Die Unternehmer vertraten dabei die Auffassung, dass dies ihre Pflicht gegenüber dem Staat sei – unabhängig davon, welches politische System sie vorfanden, und unabhängig vom Rechts- beziehungsweise Unrechtscharakter des nationalsozialistischen Staates.