Flüchtlinge als Thema der öffentlichen politischen kommunikation in der Schweiz 1938 bis 1947

Kurt Imhof, Patrik Ettinger, Boris Boller

Die systematische Analyse der öffentlichen politischen Kommunikation in der Schweiz zwischen 1938 und 1947 anhand repräsentativer Zeitungen zeigt, dass Flüchtlinge nur ein Randthema darstellen. Verglichen mit den breit diskutierten innenpolitischen Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik, der Landesverteidigung und Landesversorgung sowie der Integration der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz ist die Flüchtlingsfrage marginal. Dennoch lassen sich in einer detaillierten quantitativen und qualitativen Analyse einzelne Phasen bestimmen, in denen sich die Berichterstattung über Flüchtlinge intensiviert. Solche Phasen sind zum einen durch Ereignisse wie die Internierung französischer und polnischer Soldaten 1940 oder die Vorgänge an der Grenze unmittelbar vor Kriegsende gekennzeichnet. Zum andern sind sie durch eine diskursive Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsfrage bestimmt. Eine solche findet sich ansatzweise zwischen der Konferenz von Evian und dem Novemberpogrom in Deutschland 1938, verstärkt im Herbst 1942 nach der Rückweisung jüdischer Flüchtlinge und im Herbst 1944 infolge der prominent durch Nationalrat Bircher vorgetragenen Kritik an Internierten, sowie schliesslich in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Kontext der Auseinandersetzung mit Missständen und Skandalen im Internierungswesen. Im quantitativen Vergleich dieser Phasen zeigt sich ein Trend zur Intensivierung der Berichterstattung ab 1943 mit einem deutlichen Höhepunkt 1945. Eine breitere Berichterstattung und Diskussion über Flüchtlingsfragen findet in der Schweiz somit erst in den letzten Kriegsjahren und in der unmittelbaren Nachkriegszeit statt. Diese Intensivierung muss vor dem Hintergrund des zunehmend als problematisch wahrgenommenen Verhältnisses der Schweiz zu den Siegermächten gesehen werden.

Die inhaltsanalytische Auswertung der Berichterstattung erfasst, wie schweizerische Akteure und Institutionen auf der einen und Flüchtlinge auf der anderen Seite wahrgenommen und typisiert werden und welchen Handlungsspielraum die jeweiligen Akteure als gegeben erachten. Als dominant für das Selbstverständnis der Schweiz erweist sich die in allen Zeitungen ungebrochen dominierende Vorstellung von der Schweiz als «Transitland». Akzentuiert durch kulturell oder wirtschaftlich begründete Überfremdungsängste, bestimmt diese «Transitland-Doktrin» den politischen Handlungsspielraum in der Flüchtlingspolitik. Selbst vereinzelte kritische Stimmen zur Flüchtlingspolitik, wie sie sich vor allem in der sozialdemokratischen Tagwacht finden, stellen die Transitland-Doktrin nicht in Frage.

Das Selbstbild der Schweiz als Transitland und Hort humanitärer Tradition beeinflusst auch die Auswahl und Darstellung der Flüchtlingsgruppen. Mit den Flüchtlings- bzw. Ferienkindern und den internierten Soldaten wird das medial vermittelte Bild der Flüchtlinge in der Schweiz durch jene Gruppen geprägt, deren Rückreise festgelegt oder zumindest erwartbar ist. Der Berichterstattung über die grosszügige Kinderhilfe kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu, denn in ihr wird der latente Widerspruch zwischen der humanitären Tradition der Schweiz und ihrer der Transitland-Doktrin verschriebenen Staatsraison aufgehoben. Die Berichterstattung über Flüchtlinge aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen ist von viel geringerem Umfang. Sie ist zudem auf jene Zeitungen beschränkt, die sich der jeweiligen Flüchtlingsgruppe durch eine gemeinsame Weltanschauung verbunden fühlen. Dass es sich bei den Flüchtlingen vor allem um jüdische Personen handelt, wird zwar in der Romandie, nicht aber in der Deutschschweiz explizit erwähnt. Ebenso selten kommt es – zumindest bis 1942 – zu einer diskursiven Verknüpfung zwischen der Berichterstattung über Flüchtlinge und der seit Beginn kontinuierlichen Berichterstattung über ihre Verfolgung im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich. Damit werden Fluchtgründe weitgehend aus der Berichterstattung über Flüchtlinge ausgeklammert. Auch dies trägt dazu bei, dass die Flüchtlingsfrage in der Schweiz in nur geringem Mass und weitgehend konsensuell diskutiert wird.