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Rechtliche
Aspekte der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg
Walter
Kälin
Das vorliegende Gutachten
stellt den Stand und die Entwicklung der völker- und landesrechtlichen
Normen dar, die für die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten
Weltkrieg relevant waren, und leitet aus dieser Analyse aus juristischer
Sicht Kriterien ab, die für eine umfassendere Beurteilung dieser
Politik herangezogen werden können. Die Untersuchung befasst sich
im ersten Teil mit dem eigentlichen Flüchtlingsrecht, insbesondere
der Entwicklung des Flüchtlingsbegriffs und des Prinzips des Non-Refoulement.
Der zweite Teil ist dem Vollmachtenregime gewidmet, wobei das Verordnungsrecht,
das der Umsetzung der schweizerischen Flüchtlingspolitik diente,
im Zentrum steht.
Für das Flüchtlingsrecht
erweist sich der Zeitraum zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des
Zweiten Weltkrieges als eine Zeit fundamentalen Wandels. In dieser Periode
bildete sich unter dem Eindruck der grossen Flüchtlingsprobleme nach
dem Ersten, dann aber vor allem als Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse
vor und während des Zweiten Weltkrieges ein Flüchtlingsbegriff
heraus, der sich von einer gruppenweisen Umschreibung von Personen, welche
wegen ihrer Zahl den Aufnahmestaaten Probleme bereiteten, zu einem Konzept
wandelt, das immer deutlicher von der Idee der Menschenrechte geprägt
ist und in dessen Zentrum die Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung
steht. In einem engen Zusammenhang mit dieser Entwicklung steht auch die
Verankerung des Prinzips des Non-Refoulement, des Verbots, Flüchtlinge
in einen Staat zurückzuschieben, in dem ihnen Gefahr an Leib und
Leben droht. Diese Eckpfeiler des heutigen (landes- und völkerrechtlichen)
Flüchtlingsrechts stehen jedoch erst ganz am Ende einer aus heutiger
Sicht zögerlichen und quälend langsamen Entwicklung; sie setzten
sich nicht vor der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 durch.
Auf landesrechtlicher
Ebene war das Flüchtlingsrecht vieler europäischer Staaten vor
und während des Zweiten Weltkriegs von einem weit engeren Flüchtlingsbegriff
geprägt, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Dies galt
auch für die Schweiz: Nur gerade für «politische Flüchtlinge»,
d. h. Personen, die wegen verbotener politischer Aktivitäten
in ihrem Herkunftsstaat gefährdet erschienen, war die Möglichkeit
der Asylgewährung und eines Schutzes vor Rückschiebung gesetzlich
verankert. Für Personen, die aus anderen Gründen verfolgt wurden,
sah das schweizerische Landesrecht keinen besonderen Status oder Schutz
vor. Damit wurden namentlich Juden und andere Personen, die wegen ihrer
Rasse verfolgt wurden, vom Asylrecht nicht erfasst.
Auf völkerrechtlicher
Ebene lässt sich eine schrittweise Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs
feststellen. In verschiedenen Vereinbarungen wurde die Flüchtlingseigenschaft
einzelnen, genau umschriebenen Gruppen von Personen aus bestimmten Staaten,
darunter auch Deutschland, zugesprochen. Allerdings war mit der Zusprechung
der Flüchtlingseigenschaft nicht notwendigerweise ein besonderer
Rechtsstatus oder Schutz verbunden. Immerhin kam es in dieser Zeit auch
für diese Gruppen ansatzweise zu ersten Verankerungen des Non-Refoulement-Prinzips.
Die entsprechenden Abkommen sahen jedoch meist kein Verbot der Abweisung
an der Grenze vor, sondern beschränkten den Schutz auf jene Flüchtlinge,
die über den engeren Grenzraum hinaus ins Landesinnere fliehen konnten.
Für die Schweiz ergab sich eine entsprechende Verpflichtung aus einem
Abkommen von 1936 betreffend den Rechtsstatus von Flüchtlingen aus
Deutschland.
Das Vollmachtenregime
während der Kriegsjahre, d. h. die Übertragung von weitreichenden
gesetzgebenden und verfassungsändernden Befugnissen von der Bundesversammlung
an den Bundesrat, wurde (und wird) von der juristischen Lehre praktisch
einhellig für zulässig erachtet. Ausschlaggebend ist im wesentlichen
das Argument, die damalige Gefährdung des Bestandes und der Integrität
des Staatswesens habe diese Massnahme erforderlich gemacht. Aus der Zulässigkeit
von Notrecht folgt jedoch nicht automatisch die Rechtmässigkeit aller
getroffenen Massnahmen. Entscheidend war die Frage, ob diese in sachlicher
und zeitlicher Hinsicht nicht über das Mass hinausgingen, das zur
Erreichung der verfolgten Zwecke erforderlich war.
Im Gutachten näher
untersucht werden die Frage der Rechtmässigkeit der Deponierungspflicht
für Flüchtlingsvermögen und der Solidaritätsabgabe,
die Problematik des «J»-Stempels und die Behandlung der Flüchtlinge
in Internierungs- und Flüchtlingslagern. Vom Auftrag her konnte es
dabei nur darum gehen, allgemeine Kriterien für die Beurteilung dieser
Massnahmen herauszuarbeiten; die abschliessende Beurteilung konkreter
Situationen musste der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz –
Zweiter Weltkrieg überlassen werden.
Unter Vorbehalt dieser
Einschränkung ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild: Nach heutigen
Massstäben wäre die Behandlung von Flüchtlingen, die während
des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz aufgenommen wurden, in verschiedener
Hinsicht als rechtswidrig einzustufen. Eine Beurteilung aus zeitgenössischer
Sicht kommt über weite Strecken zu einem anderen Ergebnis: Die Deponierungspflicht
für Flüchtlingsvermögen und die rechtliche Behandlung der
Flüchtlinge in den Internierungs- und Flüchtlingslagern waren
zwar nicht durchgängig, jedoch weitgehend mit dem geltenden Landes-
und Völkerrecht vereinbar, soweit sie nicht im Lichte der konkreten
Umstände als schikanös einzustufen waren oder gegen konkrete
Verpflichtungen aus Niederlassungsverträgen verstiessen. Das zeitgenössische
Recht schützte Individuen nur schwach: Das Konzept der Menschenrechte
existierte im Völkerrecht noch kaum, und das Verständnis der
Grundrechte war nicht frei von autoritären Tendenzen.
Problematisch war
die Erhebung einer Solidaritätsabgabe, soweit ihr Niederlassungsverträge
entgegenstanden, welche Emigranten und Flüchtlinge mit Toleranzbewilligung
schützten. Rechtsprobleme ergeben sich auch in Hinblick auf den «J»-Stempel.
Auch wenn der Beschränkung der Einreisemöglichkeit der deutschen
Juden nach damaligem Verständnis kein verfassungsrechtliches Diskriminierungsverbot
entgegenstand, verstiess sie doch gegen den Niederlassungsvertrag mit
Deutschland, und unter dem Gesichtspunkt des schweizerischen Ordre
public bewegte sich die Massnahme zumindest in einer rechtlichen Grauzone.
Auch nach damaligen Massstäben rechtlich höchst problematisch
war die Tatsache, dass die Schweiz Deutschland die Möglichkeit einräumte,
gegenüber Schweizern jüdischen Glaubens dieselben Beschränkungen
zu verhängen.
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