Zusammenfassung

1 Das Problem

Informationen über die Deportation und die Vernichtung der Juden erreichten die Schweiz im Laufe des Sommers 1942. Der Chefredaktor der Sentinelle, Paul Graber, beschloss im August 1942, diese Nachrichten zu veröffentlichen und zugleich gegen die Rückweisung von Flüchtlingen an der Schweizer Grenze zu protestieren. Vor den Zensurbehörden rechtfertigte er sein Vorgehen folgendermassen:

«Die berichteten Ereignisse sind von einer solchen Natur, dass jeder Journalist, der sich in den Dienst der Verteidigung menschlicher Werte stellt, in der heiligen Pflicht steht, sie anzuprangern. Eine solche Anklage ist Teil der Verteidigung der höchsten Werte. [...]. Wir müssen jenseits jeglicher nationaler Rücksichtnahmen, welches Land auch immer sie betreffen, die menschlichen Werte, die durch den Krieg und jene Ursachen, die Kriege hervorrufen, unterzugehen drohen, mit allen Mitteln verteidigen.»

Die schweizerischen Behörden verfügten zur selben Zeit über mehr und genauere Informationen. Dennoch entschieden sie sich, die Grenze zu schliessen, nur eine kleine Zahl von Verfolgten aufzunehmen und «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden» zurückzuweisen. Sie rechtfertigten diesen Entscheid mit der allgemeinen Bedrohungslage – der angespannten Lebensmittelversorgung, den militärischen Gefahren, der Angst vor allfälligen sozialen und politischen Unruhen – sowie damit, dass die Schweiz bereits die im Land befindlichen Emigranten und internierten Militärpersonen versorgen müsse. Das «volle Boot» wurde zum Symbol für diese Politik.

Nach dem Krieg, als die Vernichtung der europäischen Juden zum Kennzeichen einer Epoche geworden war, kamen weitere Rechtfertigungsversuche hinzu. Man habe nicht gewusst, was sich im «Dritten Reich» wirklich abgespielt habe; man habe getan, was möglich gewesen sei; und was hätte die Schweiz, ein kleiner, von Hitler bedrohter Staat, denn schon vermocht? Zwischen diesen rechtfertigenden Argumenten, welche die Komplexität der damaligen Situation und die Schwierigkeiten für die Entscheidungsträger betonen, und der von Graber vertretenen Haltung, die menschlichen Werte seien unbedingt zu verteidigen, besteht eine breite Kluft. Sie verdeutlicht sowohl das Problem, das im Mittelpunkt des vorliegenden Berichtes steht, als auch die unterschiedlichen Sichtweisen.

Seit den damaligen Ereignissen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg untersucht eine Epoche, die für die ganze Menschheit grundlegende Fragen aufwirft, denn der Zweite Weltkrieg war kein Konflikt wie jeder andere. Zu einer militärischen Konfrontation von bisher unbekannten Dimensionen kam ein Völkermord hinzu: die systematische Vernichtung von Millionen von Kindern, Frauen und Männern.

Die Schweiz war vom nationalsozialistischen Deutschland zeitweise bedroht, und zugleich war sie mit dem benachbarten Staat in vielfältiger Weise verflochten. Deshalb gilt es, die Politik der schweizerischen Behörden und die Reaktionen der Bevölkerung zu untersuchen. Es ist zu fragen, weshalb die Behörden trotz der Informationen, die sie erhielten, ihre Politik nicht änderten, und weshalb die öffentliche Meinung nur schwach reagierte.

Der vorliegende Bericht präsentiert sowohl bereits bekannte Tatsachen als auch neue Forschungsergebnisse. Er stellt diese in einen Gesamtzusammenhang, ohne eine endgültige Erklärung zu beanspruchen. Vielmehr bietet er, ausgehend vom damaligen Kontext und aufgrund der Kenntnis von damals zumeist nicht zugänglichen Quellen, für die vergangenen Ereignisse Erklärungsversuche an.

2 Die internationale Rolle der Schweiz

Die internationale Rolle der Schweiz war von vier besonderen Merkmalen geprägt: der Asyltradition, dem mit der Neutralität verbundenen humanitären Engagement, ihren internationalen Verpflichtungen und ihrer Bedeutung als Finanzplatz.

Erstens verstand sich die Schweiz als Land mit einer weit zurückreichenden Asyltradition. Dass dieses Bild auch ausserhalb der Schweiz bestand, lag darin begründet, dass das Land in den vorangehenden Jahrhunderten verschiedentlich grosszügig Flüchtlinge aufgenommen hatte. Allerdings war die Asylgewährung immer von Einschränkungen begleitet: Man unterschied zwischen erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen, und letztere wurden gedrängt, andernorts ein definitives Asyl zu suchen. Trotz dieser Vorbehalte war die Asyltradition zur Zeit des Nationalsozialismus ein Argument für eine offenere Flüchtlingspolitik; zugleich war sie ein Motiv für das Engagement zahlloser Schweizerinnen und Schweizer aus allen sozialen, politischen und konfessionellen Milieus, die den Flüchtlingen Hilfe leisteten und dabei manchmal das Risiko illegaler Handlungen in Kauf nahmen. Der Ruf als traditionelles Asylland lag auch den Hoffnungen der Verfolgten zugrunde, in der Schweiz Aufnahme zu finden. Die damit verbundene Verantwortung der Eidgenossenschaft wurde um so bedeutender, als die Schweiz im Laufe des Krieges zu einem der wenigen von NS-Deutschland nicht besetzten und für die Flüchtlinge erreichbaren Asylländer wurde.

Zweitens verknüpfte die Schweiz ihre Neutralitätspolitik mit einem humanitären Engagement, das ihr in Kriegszeiten als neutralem Staat in besonderem Masse möglich war. Als Wiege des Roten Kreuzes war die Schweiz bei anderen Staaten als eine Nation anerkannt, die sich für die Kriegsopfer einsetzte. Die spezifischen Bedingungen des Zweiten Weltkriegs eröffneten ihr Interventionsmöglichkeiten, konfrontierten sie aber auch mit unvorhergesehenen Veranwortlichkeiten. Im Januar 1942 setzte der Bundesrat einen Delegierten für die internationalen Hilfswerke ein, der die Hilfsaktionen halbstaatlicher und privater Organisationen auf die aussenpolitischen Interessen der Schweiz und insbesondere auf ihre diplomatische Tätigkeit als Schutzmacht fremder Interessen abstimmen sollte. Das zentrale Problem der humanitären Politik lag darin, dass die Entscheidungsträger trotz ihrer Kenntnisse an einem engen Neutralitätsverständnis festhielten und sich auf zivile und militärische Kriegsopfer konzentrierten. Sie waren nicht bereit, einen Unterschied zwischen Krieg und Völkermord anzuerkennen. Damit standen die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung – auch nach Kriegsende – nicht im Zentrum des humanitären Engagements der Schweiz.

Drittens hatten die schweizerischen Behörden 1920 für einen Beitritt der Eidgenossenschaft zum Völkerbund gekämpft und sich dafür eingesetzt, dass sein Sitz in Genf eingerichtet wurde. Als im Laufe der 1930er Jahre die internationalen Spannungen und Konflikte zunahmen, zu deren Lösung der Völkerbund sich als unfähig erwies, zog sich die Schweiz kontinuierlich von ihren internationalen Verpflichtungen zurück und erklärte 1938 die Rückkehr zur integralen Neutralität. Hatte sie sich in der Frage der russischen und armenischen Flüchtlinge noch engagiert, so hielt sie sich bei den bescheidenen Versuchen, die auf diplomatischer Ebene zugunsten der Flüchtlinge aus Deutschland unternommen wurden, zurück. Die Unterzeichnung des provisorischen Arrangements vom 4. Juli 1936 betreffend der Flüchtlinge aus Deutschland war diesbezüglich die letzte Verpflichtung, die die Schweiz auf internationaler Ebene einging.

Viertens war die Epoche von 1914 bis 1945 für den schweizerischen Finanzplatz eine Zeit des Aufschwungs und der Konsolidierung. Die Finanzbeziehungen wurden zu einem zentralen Faktor in den internationalen Beziehungen der Schweiz. Während der Liberalismus das Fundament dieses Aufschwungs bildete, der auf einem freien internationalen Kapitalverkehr beruhte, ging die Schweiz zur selben Zeit in bezug auf den internationalen Personenverkehr zu einer Politik über, die eine Abkehr vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts darstellte. Dieser Kontrast verstärkte sich während des Krieges, als es die Schweiz einerseits ablehnte, wie die anderen Staaten die Devisenbewirtschaftung und die Kontrolle des Kapitalverkehrs einzuführen, und andererseits Barrieren gegenüber den Flüchtlingen errichtete, die sie als Elemente einer vorgeblichen «Überfremdung» betrachtete.

Diese vier Merkmale eröffneten der Schweiz sowohl gegenüber dem «Dritten Reich» als auch gegenüber anderen Staaten gewisse Handlungsspielräume. Für das nationalsozialistische Deutschland waren die Leistungen des Finanzplatzes besonders wertvoll; dazu kam der Import von schweizerischen Industrieprodukten. Das Reich war auch bestrebt, auf die Aktivitäten der Schweiz als Schutzmacht fremder Interessen und auf die Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Rücksicht zu nehmen. Der Schutz der in den alliierten Staaten internierten deutschen Zivilpersonen und Kriegsgefangenen durch Schweizer Diplomaten genoss in Deutschland einen hohen Stellenwert. Die Alliierten dagegen kritisierten die Schweiz für ihre Kooperation mit den Achsenmächten heftig. Neben den wirtschaftlichen Beziehungen mit den Alliierten und den diplomatischen Aufgaben als Schutzmacht konnte die Schweiz gegenüber den Alliierten auch das humanitäre Engagement und die Asylpolitik in die Waagschale werfen, indem sie die Anerkennung und Dankbarkeit jener Menschen hervorstrich, zu deren Hilfe oder Rettung sie beigetragen hatte.

3 Die Schweiz und die Flüchtlinge

In der schweizerischen Flüchtlingspolitik waren Elemente von langer Dauer, nämlich die strukturellen Leitlinien der schweizerischen Fremdenpolitik, und Elemente von kurzer Dauer, nämlich die Politik gegenüber NS-Deutschland, seinen Verfolgungsmassnahmen und der Kriegführung durch die Achsenmächte, engstens miteinander verzahnt.

Seit dem Ersten Weltkrieg machten sich die schweizerischen Behörden den Kampf gegen die «Überfremdung» des Landes zum zentralen Anliegen. Die zur Zentralisation und Durchsetzung dieser Politik geschaffene Eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei des EJPD wurde im Laufe der 1920er Jahre durch gesetzliche Bestimmungen gestärkt. Dazu kamen zahlreiche Massnahmen im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, die auf eine Abwehr alles Fremden zielten, so dass der Bevölkerungspolitik, die die Zahl der Ausländer in der Schweiz auf ein Minimum reduzieren wollte, ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens zugrunde lag.

Von besonderer Bedeutung war dabei der Antisemitismus. Von älteren Formen christlicher Judenfeindschaft genährt, hatte er – wie in anderen europäischen Staaten – die politische Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahrhundert verzögert. Er war, zumeist unausgesprochen und tabuisiert, im Sinne einer mentalen Grunddisposition der gesamten Gesellschaft die Ursache der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Marginalisierung der kleinen jüdischen Minderheit. Dies führte dazu, dass Juden in Verwaltung, Wirtschaftsverbänden und Armee unterrepräsentiert waren, dass sie bei der Einbürgerung diskrimiert wurden, dass sie schliesslich – trotz ihrer offensichtlichen Verfolgung – nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. So kämpfte Heinrich Rothmund, der als Chef der Polizeiabteilung des EJPD sowohl für die Fremdenpolitik als auch für die Politik gegenüber den Flüchtlingen «aus Rassegründen» zuständig war, nicht nur gegen die «Überfremdung», sondern insbesondere gegen die «Verjudung» der Schweiz.

Vor diesem Hintergrund sind die Verhandlungen zwischen der Schweiz und Deutschland, die nach dem «Anschluss» Österreichs 1938 zur Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden durch den «J»-Stempel führten, Teil einer Geschichte, die sich nicht auf die «dunklen Jahre» der nationalsozialistischen Herrschaft beschränken lässt. Während Rothmund die Einführung der diskriminierenden Massnahme ablehnte und eine Visumspflicht für alle deutschen Staatsbürger ins Auge fasste, erwog der Bundesrat angesichts der systematischen Vertreibung der Juden aus dem Reich verschiedenste Massnahmen, um die jüdischen Flüchtlinge von der Schweiz fernzuhalten, wobei er die Beziehungen zum nationalsozialistischen Regime möglichst nicht belasten wollte. So legten die Behörden ihrer Visumspraxis die rassistischen Kategorien «arisch» und «nichtarisch» zugrunde und verwendeten diese auch in ihrer Verwaltungspraxis. Der Misserfolg der Konferenz von Evian im Sommer 1938 und die von den anderen Staaten beschlossenen Restriktionen verstärkten den Willen zur Abwehr der jüdischen Flüchtlinge noch, so dass es schliesslich zu einem Abkommen kam, dessen Preis die moralische Kapitulation vor dem rassistischen Antisemitismus des Nationalsozialismus war.

Auch während des Krieges war die Schweiz keine von der Welt abgeschnittene Insel. Vielfältige Beziehungen und gegenseitige Verpflichtungen verbanden sie mit anderen Staaten, auch wenn sie durch den Krieg erschwert waren. Trotz der Geheimhaltung durch die Deutschen gelangten glaubhafte Informationen über die Vernichtung der Juden nach Zürich, Basel, Bern und Genf. Aufgrund ihrer geographischen Lage wurde die Schweiz ein Knotenpunkt, in dem die Informationen zusammenliefen und sich, vor allem nach der Besetzung der Südzone von Frankreich im November 1942, schweizerische und internationale Flüchtlingshilfswerke konzentrierten. Die Beziehungen der Bundesbehörden zu den Hilfswerken waren indessen vom Bestreben geprägt, die Aufnahme und die Handlungsmöglichkeiten der Flüchtlinge auf das absolute Minimum zu begrenzen. Ausdruck der Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln, der Gleichzeitigkeit von hohem Informationsstand und politischer Passivität, ist das folgende Beispiel: Gerhart Riegner, der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, informierte die Alliierten von der Schweiz aus über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. In der Bundeshauptstadt Bern wie auch am Sitz des IKRK in Genf wurden die Pläne, den Massenmord öffentlich anzuprangern, dagegen ad acta gelegt.

Auch nachdem sie von den unvorstellbaren Vorgängen Kenntnis erhalten hatten, veränderten die Bundesbehörden – ebenso wie die Regierungen der meisten Staaten – ihre Politik gegenüber den Flüchtlingen kaum. Die geläufigsten Haltungen in den neutralen Staaten waren Indifferenz, Passivität oder der Versuch, sich mit dem nationalsozialistischen System zu arrangieren. So war es 1938 ebenso wie 1942 in der Schweiz möglich, das Verhalten anderer demokratischer Staaten als Argument zu benutzen, um die Schliessung der Grenzen zu rechtfertigen. Gefangen in den komplexen schweizerisch-deutschen Beziehungen und konfrontiert mit den Auswirkungen des Weltkriegs, versuchten die schweizerischen Entscheidungsträger die Unabhängigkeit und die wirtschaftliche Stabilität der Eidgenossenschaft zu bewahren. Das Schicksal der Flüchtlinge betrachteten sie als ein untergeordnetes Problem. Obwohl sie aufgrund der internationalen Rolle der Schweiz einige Trümpfe in der Hand hielten, nutzten sie den engen, aber dennoch vorhandenen Handlungsspielraum kaum zur Verteidigung grundlegender menschlicher Werte.

4 Aufnahme und Rückweisung von Flüchtlingen

Im Sommer 1942 kamen die schweizerischen Behörden zum Schluss, dass die Schweiz aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen könne. Zudem empfahlen die militärisch Verantwortlichen die konsequente Rückweisung an der Grenze als eine Massnahme, die weitere Flüchtlinge davon abhalten sollte, die Flucht in die Schweiz überhaupt zu versuchen. Aus diesen Gründen stieg die Zahl der Rückweisungen ab August 1942 massiv an und blieb bis zum Herbst 1943 hoch; allein für diesen Zeitraum sind über 5000, für die gesamte Kriegszeit über 24 000 Rückweisungen an der Grenze schriftlich nachgewiesen. Vor und während des Krieges kam es zudem zu Abweisungen und Ausschaffungen, welche die Beamten entweder nicht schriftlich festhielten oder deren Aufzeichnungen nicht aufbewahrt wurden. Wie viele Menschen nach der Ablehnung ihres Visumsantrages durch eine schweizerische konsularische Vertretung oder aufgrund der Informationen über die restriktive Politik gar nicht versuchten, in die Schweiz zu gelangen, ist ungewiss. So bleibt die genaue Zahl der Menschen, die die Schweiz vor der Deportation und Ermordung hätte retten können, im dunkeln.

Trotz des Beschlusses, ausser den «politischen» alle Flüchtlinge abzuweisen, nahm die Schweiz während des Krieges 21 000 jüdische und insgesamt über 51 000 Zivilflüchtlinge auf. Dies hat drei Gründe. Flüchtlinge fanden erstens Aufnahme, wenn sie zu einer sogenannten Härtefallkategorie gehörten. Zweitens wurden sie in der Regel nicht ausgeschafft, wenn es ihnen geglückt war, nach dem heimlichen Grenzübertritt ins Landesinnere zu gelangen; allerdings sind verschiedene Fälle dokumentiert, in denen es dennoch zur Ausschaffung kam. Drittens gingen die Behörden ab Herbst 1943 zu einer weniger restriktiven Politik über. Diese Chance nutzten zahlreiche Flüchtlinge, die im Zusammenhang mit den politischen und militärischen Ereignissen in Italien über die Südgrenze in die Schweiz gelangten; darunter waren jedoch vergleichsweise wenige Juden, deren Verfolgung erst im Juli 1944 als Aufnahmegrund anerkannt wurde.

Im Spannungsverhältnis zwischen Bestimmungen, die grundsätzlich die Rückweisung der Flüchtlinge verlangten, und einer Praxis, die im Einzelfall doch die Chance einer Aufnahme in der Schweiz bot, versuchten einzelne Funktionäre und unzählige Private, Flüchtlinge, die an der Grenze auftauchten, zu retten. Diese komplexe Situation wirft die Frage nach den Kompetenzen und der Verantwortung auf. Dem Bundesrat, der bei Kriegsbeginn vom Parlament ausserordentliche Vollmachten erhalten hatte, und der Armeeführung, deren Zielen zahlreiche Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens untergeordnet wurden, kam eine zentrale Rolle zu. Die Einschränkungen der Kompetenzen des Parlaments und der demokratischen Rechte, z. B. der Pressefreiheit, bedeuteten zugleich, dass die Behörden über ausgedehnte Macht verfügten. Der Ermessens- und Entscheidungsspielraum von einzelnen Beamten war beachtlich, in Bern wie an der Grenze. Deshalb sollte man nicht von einer kollektiven Verantwortung der Schweizerinnen und Schweizer sprechen; es ist zu offensichtlich, dass die Kompetenzen und damit auch die Verantwortung sehr ungleich verteilt waren. Dies tritt deutlich zutage, wenn man die Wege nachvollzieht, die für die Flüchtlinge im einen Fall zur Aufnahme, im anderen Fall zur Rückweisung führten.

Der vorliegende Bericht misst der Rekonstruktion dieser Wege und damit den Erfahrungen der Flüchtlinge ganz besondere Bedeutung zu. Trotz Lücken in den Archiven wurden die Fluchtrouten, die Gefahren der Flucht, die Situation an der Grenze, die unterschiedlichen Handlungsweisen von Beamten an der Grenze und in den Amtsstuben sowie die Hilfeleistungen der Bevölkerung erforscht. Dies führt zu einem differenzierten Bild, das die Bedrohung der Flüchtlinge und die verschiedenen Handlungsweisen, mit denen sie in der Schweiz konfrontiert waren, anschaulich wiedergibt. Anhand gut dokumentierter Beispiele werden der Weg und das Schicksal einiger weniger Flüchtlinge verfolgt: Von ihrem Herkunftsort bis zur Grenze, wobei die Bedeutung international organisierter Fluchthilfeorganisationen ebenso zutage tritt wie die Bedingungen einer individuell geplanten Flucht. Beim Grenzübertritt nahmen viele Flüchtlinge die Dienste sogenannter Passeure in Anspruch, die teils aus finanziellen Motiven, teils aus politischer, religiöser oder humanitärer Überzeugung handelten. Auf der Schweizer Seite waren sie mit Beamten konfrontiert, die im einen Fall Verständnis zeigten und halfen, ihnen im anderen Fall aber mit Hartherzigkeit, teilweise gar mit antisemitisch motivierter Verachtung und physischer Gewalt begegneten. Letzteres dokumentiert der Bericht anhand der Ausschaffungspraxis in Genf im Herbst 1942. Die dafür Verantwortlichen wurden später gerichtlich verurteilt, was zeigt, dass die Massnahmen in Genf ausserordentliche Dimensionen erreicht hatten. Die dortigen Verhältnisse können jedoch insofern nicht als singuläre Erscheinung betrachtet werden, als ein rücksichtsloser Vollzug der Rückweisungen auch für andere Grenzabschnitte belegt ist und die übergeordneten Instanzen, die sich von einer konsequenten Rückweisungspraxis eine «abschreckende Wirkung» auf die Flüchtlinge erhofften, erst nach längerem Zusehen eingriffen.

Der Aufenthalt in den militärisch geführten Auffanglagern, wo die Flüchtlinge zuerst für einige Wochen oder Monate untergebracht wurden, war von Kontroll- und Disziplinarmassnahmen sowie teilweise von der Knappheit an Nahrungsmitteln und Kleidern gekennzeichnet. Die Entscheidungsträger sahen in den Flüchtlingen viel eher eine Bedrohung der Sicherheit des Landes als schutzbedürftige Verfolgte, was in manchen Lagern zu nur schwer erträglichen Lebensbedingungen führte. Ausserdem waren viele militärische Lagerkommandanten und ihre Mitarbeiter ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Die spätere Unterbringung in zivilen Lagern und Heimen unterschied sich in materieller Hinsicht kaum von den Verhältnissen, unter denen die dienstleistenden Soldaten und die Zivilbevölkerung lebten. Unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft war auch der Alltag der Schweizer Bevölkerung von zahlreichen Einschränkungen geprägt, namentlich im Bereich der Versorgung mit rationierten Lebensmitteln und Kleidern sowie in der Arbeitswelt, wo eine allgemeine Arbeitsdienstpflicht galt und die gesamte Bevölkerung in die sogenannte Anbauschlacht einbezogen wurde. Es war denn auch eher selten die materielle Versorgung, die den Flüchtlingen Anlass zu Klagen gab, als vielmehr das ungenügende Verständnis, das ihnen die schweizerischen Behörden entgegenbrachten. Mit der Trennung von Familien, der Isolation gegenüber der einheimischen Bevölkerung, dem Erwerbsverbot und dem gleichzeitigen Zwang zur Ausführung von Arbeiten, für die manche Flüchtlinge weder von ihrer physischen Verfassung noch von ihrer Ausbildung her geeignet waren, wurden schwerwiegende Fehler gemacht. Diese Massnahmen, die die politischen Behörden zu verantworten hatten, waren leichter zu ertragen, wenn die Leiterinnen und Leiter der Heime und Lager den Flüchtlingen menschlich begegneten und sich in ihre Lage hineinzuversetzen versuchten. Der vorliegende Bericht zeigt, dass bei der Zentralleitung der Lager und Heime allerdings eher Lagerleiter gefragt waren, die die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin zu ihren obersten Zielen erklärten, dass es zugleich aber auch Lager gab, in denen sich die Flüchtlinge, soweit dies im Exil überhaupt möglich war, wohl fühlten.

Während über die Lager und Heime mittlerweile verschiedene Forschungsarbeiten vorliegen, ist über die private Unterbringung der Flüchtlinge noch wenig bekannt. Dies obwohl ein grosser Teil der Flüchtlinge nach einem vorübergehenden Lageraufenthalt eine private Unterkunft fanden, die – wie z. B. in Rahmen der im Herbst 1942 von Pfarrer Paul Vogt lancierten Freiplatzaktion – entweder unentgeltlich zur Verfügung gestellt oder, was zumeist der Fall war, den Flüchtlingen vermietet wurde.

5 Finanzielle Aspekte

Die Untersuchung der finanziellen Aspekte der Flüchtlingspolitik, die zum Kernbereich des bundesrätlichen Auftrags an die Kommission gehört, steht in einem komplexen Zusammenhang: Orientierungshorizont der schweizerischen Entscheidungsträger waren die Krisenerfahrung am Ende des Ersten Weltkriegs, die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und später, während des Krieges, die Sicherstellung der Landesversorgung. Die Flüchtlinge aus Deutschland, und zwar vor allem die Juden, waren seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten einer wirtschaftlichen Diskriminierung und Verdrängung ausgesetzt. Diese eskalierte ab 1937 zur Enteignungs- und Beraubungspolitik, die im Laufe des Krieges auf den gesamten NS-Machtbereich ausgedehnt und in den Vernichtungslagern mit dem Raub des sogenannten Totengoldes zu ihrem kaum fassbaren Ende geführt wurde.

Den Flüchtlingen, die in den 1930er Jahren in die Schweiz kamen, konnten die Kantone kurzfristige Aufenthaltsbewilligungen erteilen, für die sie Kautionen und Zahlungsversprechen verlangten. Diese betrugen im einen Fall das Mehrfache eines Jahreslohnes; im anderen Fall wurden sie vollständig erlassen. So steuerten die Kantone die Aufnahme von Flüchtlingen nach Kriterien, die sie nicht weiter zu begründen brauchten. Im Rahmen des schweizerischen Föderalismus genossen sie in der Flüchtlingspolitik beträchtliche Kompetenzen, die während des Krieges allerdings weitgehend eingeschränkt wurden. Dennoch waren die Kantone – durch ihre fremdenpolizeilichen Vollzugsaufgaben und die Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren – in die Politik des EJPD eingebunden. Sie trugen diese mit, auch wenn einige, wie z. B. Basel-Stadt, eine liberalere und andere, wie z. B. der Thurgau, eine härtere Flüchtlingspolitik vertraten.

Als Folge der Wirtschaftskrise entstand im bilateralen Zahlungsverkehr zwischen der Schweiz und Deutschland ein komplexes Verrechnungssystem, das in mehreren Clearingverträgen geregelt wurde. Dies war vor allem für jene Flüchtlinge, die in den 1930er Jahren emigrierten, sowie für alle Personen, die in der Schweiz lebten und auf Überweisungen aus dem Reich angewiesen waren, von Bedeutung. Während der Kapitalexport aus Deutschland seit 1931 verboten war, konnten die Erträgnisse der zurückgelassenen Kapitalien sowie die Pensionen anfänglich in die Schweiz überwiesen werden. Ab 1937 schränkten die Schweiz und Deutschland diese Möglichkeiten in gegenseitigem Einverständnis kontinuierlich ein: Die Einschränkungen betrafen zuerst die Emigranten und wurden später auf alle Ausländer ausgedehnt, so dass ab 1940 mit Ausnahme der niedergelassenen deutschen Staatsangehörigen keine in der Schweiz lebenden Ausländer mehr Überweisungen aus Deutschland erhielten. Das Interesse der deutschen Machthaber am Zugriff auf die Vermögen der Flüchtlinge und der Wille der Schweizer Wirtschaft, die knappen Clearingmittel für schweizerische Bedürfnisse zu reservieren, ergänzten sich gegenseitig, während die Bedürfnisse der Flüchtlinge – ebenso wie diejenigen anderer Privatpersonen, die über keine Interessenvertretung verfügten – ins Hintertreffen gerieten. Zudem wurden die Clearingverträge – wie auch viele andere Staatsverträge – unvollständig publiziert. Dies widersprach dem Grundsatz, dass die Bestimmungen für die betroffenen Bürger erst mit der Publikation ihre Gültigkeit erhielten, und erschwerte den Flüchtlingen, sich über die Transferbedingungen ins Bild zu setzen und diese in ihre Überlegungen miteinzubeziehen.

Als die in der Schweiz niedergelassenen deutschen Juden durch die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes 1941 ausgebürgert und nach dem Willen der Nationalsozialisten als Staatenlose nun ebenfalls aus dem Zahlungsverkehr ausgeschlossen werden sollten, weigerten sich die Behörden- und Wirtschaftsvertreter der schweizerischen Clearingkommission – anders als das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und die Schweizerische Verrechnungsstelle –, die Ausbürgerung anzuerkennen. Dieser Haltung lag einerseits das Bewusstsein zugrunde, dass die Ausbürgerung unrechtmässig war und von der Schweiz nicht nachvollzogen werden musste. Anderseits beschränkte sich der Einsatz der Clearingkommission in diesem Fall auf Personen, die schon seit langem in der Schweiz niedergelassen waren und nach einem Ausschluss aus dem Zahlungsverkehr eventuell die öffentliche Fürsorge beansprucht hätten. In bezug auf Emigranten und Flüchtlinge aber hatte auch die Clearingkommission kein Interesse, «sich von gefühlsmässigen Erwägungen leiten zu lassen und damit die Eidgenössische Fremdenpolizei in ihrem Abwehrkampf gegen die Emigranten zu hindern», wie Jean Hotz, der Direktor der Handelsabteilung, im März 1939 erklärte.

Da die Flüchtlinge in der Schweiz einem generellen Arbeitsverbot unterstanden und die Überweisung von Geldern aus dem Ausland je nach Staat schwierig oder gar unmöglich war, konnten sie ihren Lebensunterhalt nur selbst bestreiten, wenn sie in der Schweiz Vermögen besassen. Unter Umständen waren sie dann als Geschäftspartner, Steuerzahler und «Gäste» der krisengeschüttelten Hotellerie willkommen. Für die Mehrzahl der Flüchtlinge war dies nicht der Fall. Sie waren auf fremde Hilfe angewiesen, die von Hilfswerken und Privatpersonen mit grossem Engagement geleistet wurde. Die Hauptlast trugen die Juden in der Schweiz, denen der Bund neben der Unterstützung der Flüchtlinge auch die Unterstützung der jüdischen Schweizerinnen und Schweizer, die aus Deutschland zurückkehrten, aufzwang. Die Frage der Kosten verschärfte sich 1938 nach dem «Anschluss» Österreichs akut, und mit der Weigerung, an die Kosten beizutragen, gelang es dem EJPD, die Hilfswerke in seine restriktive Politik einzubinden.

Von 1933 bis 1947 bezahlten die in der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (SZF) zusammengeschlossenen Hilfswerke um die 70 Millionen Franken. Der Anteil des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen / Flüchtlingshilfen (VSJF) betrug 46 Millionen Franken. Der VSJF erhielt einen wesentlichen Teil dieser Gelder von den Juden in der Schweiz; ausserdem erhöhte der Bund seine anfänglich nur für die Weiterwanderung bestimmten Subventionen ab 1944. Mehr als die Hälfte der Hilfsgelder, über die der VSJF verfügte, stammte jedoch vom American Jewish Joint Distribution Committee, das von 1939 bis 1945 um die 16 Millionen Franken und bis 1950 nochmals denselben Betrag in die Schweiz überwies.

Nach der Blockierung der schweizerischen Guthaben in den USA im Juni 1941 wurde die Möglichkeit, Unterstützungszahlungen aus den USA zu erhalten, sowohl von den USA als auch von der Schweiz erschwert. Das Kontingent der von der Schweiz bewilligten Dollarübernahmen zugunsten der Hilfswerke wurde von den schweizerischen Behörden nicht ausgeschöpft. Im Mai 1942 schloss die Schweizerische Nationalbank (SNB) das amerikanisch-jüdische Hilfswerk vom Finanztransfer in die Schweiz aus, der erst Ende 1943 wieder ermöglicht wurde. Überdies nahm die SNB auch keine Dollars mehr für Flüchtlinge entgegen, die nach dem 1. Januar 1942 in die Schweiz gelangt waren. Es fällt auf, dass die schweizerischen Behörden im selben Zeitraum, als sich die Verfolgungsmassnahmen in Frankreich intensivierten und sie Tausende von Flüchtlingen zurückwiesen, auch die finanziellen Möglichkeiten für die Flüchtlinge und die sie unterstützenden Hilfswerke einschränkten. Einen Beleg dafür, dass diese Politik gezielt und in Absprache zwischen Polizei- und Wirtschaftsbehörden erfolgte, gibt es nicht. Vielmehr dürfte die gleichzeitige Einengung der Fluchtchancen und der Unterstützungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge u. a. mit der sich damals verschärfenden Isolation der Schweiz zu tun gehabt haben. Die Isolation war jedoch nicht nur eine Folge der militärischen Ereignisse; sie wurde von der Schweiz auch bewusst gewählt. Dies zeigt sich etwa an der ablehnenden Haltung, die der Bundesrat und sein Delegierter für die internationalen Hilfswerke gegenüber Hilfsangeboten aus den USA einnahmen: Sie orientierten ihre humanitäre Politik nicht an der Not der Flüchtlinge, sondern an politischen und taktischen Überlegungen.

Als die Zahl der Flüchtlinge, die in die Schweiz zu gelangen versuchten, im Sommer 1942 zunahm, die Kantone eine Beteiligung an den Kosten ablehnten und die Mittel der Hilfswerke erschöpft waren, intensivierte der Bund sein finanzielles Engagement deutlich. Von 1939 bis 1945 gab er für die Flüchtlingspolitik 83 Millionen Franken aus; in diesem Betrag sind neben den Ausgaben für die Unterkunft und Verpflegung der Flüchtlinge auch der Verwaltungsaufwand und die Ausgaben für Kontrollmassnahmen inbegriffen. Mit Beschluss vom 1. April 1946 verzichtete der Bundesrat auf die Rückvergütung dieser Kosten durch die einzelnen Staaten, während von den Flüchtlingen in den folgenden Jahren zum Teil die Rückzahlung ihrer Unterhaltskosten verlangt wurde. Bis 1950 erhöhten sich die Ausgaben des Bundes auf 128 Millionen Franken.

Um die Kosten für Unterkunft und Verpflegung zumindest teilweise zu decken und um ein Unterlaufen der kriegswirtschaftlichen Bestimmungen zu verhindern, beschloss der Bundesrat 1943, den illegal eingereisten Flüchtlingen sämtliche Vermögenswerte abzunehmen und sie von der Schweizerischen Volksbank treuhänderisch verwalten zu lassen. Bei diesem Beschluss spielten angesichts der beträchtlichen Probleme, die sich in den Auffanglagern bei der Aufbewahrung der Flüchtlingsvermögen durch die Armee ergeben hatten, organisatorische und rechtliche Überlegungen mit. Die Bank bemühte sich um eine korrekte Kontenführung. Die konsultierten Quellen zeigen allerdings auch, dass bei der Einführung der Massnahme und der Verwaltung der Flüchtlingsguthaben bei Bundesbehörden, Wirtschaftsverbänden und Privatpersonen antisemitische Stereotype, Konkurrenzangst und Schikanen vorkamen. Mit der finanziellen Bevormundung waren die Flüchtlinge den Entscheiden der Beamten weitgehend ausgeliefert, was im Einzelfall schwerwiegende Auswirkungen haben konnte.

Mit der sogenannten Solidaritätsabgabe, einer Sondersteuer für vermögende Emigranten, sollten auch die Flüchtlinge an die Unterstützungskosten beitragen. Der Ertrag der mehrmals erhobenen Abgabe wurde an die in der SZF zusammengeschlossenen Hilfswerke verteilt; der Verteilschlüssel wurde mit dem Einverständnis des VSJF proportional zu den Aufwendungen der Hilfswerke festgelegt, während die Steuereinnahmen überwiegend von jüdischen Flüchtlingen stammten. Die Steuerveranlagung zog zahlreiche Rekurse nach sich, und die Einführung der auch von den Hilfswerken begrüssten Steuer beruhte auf einer Argumentation, die der Situation der Flüchtlinge kaum Rechnung trug. Ausgerechnet von jenen wurde finanzielle Solidarität verlangt, deren wirtschaftliche Existenzgrundlage zerstört, denen die Erwerbsarbeit untersagt und deren Aufenthalt in der Schweiz nur für wenige Monate bewilligt war. Ausserdem war die Sondersteuer rechtlich problematisch, falls sie von Personen erhoben wurde, die dem in verschiedenen bilateralen Niederlassungsverträgen verankerten Gleichbehandlungsgebot unterstanden. Besonders fragwürdig war, dass die Sondersteuer auch von Personen erhoben wurde, die nach dem 1. September 1929 eine Niederlassungsbewilligung erworben hatten, sofern sie nicht mehr in ihren Heimatstaat zurückkehren konnten. Dies betraf auch die in der Schweiz niedergelassenen deutschen Juden, deren Ausbürgerung 1941 gegen den schweizerischen Ordre public verstiess. Solche rechtlichen Einwände kümmerten das EJPD jedoch wenig, da es wusste, dass die Juden in vielen Staaten unerwünscht waren und ihren völkerrechtlichen Schutz, auch wenn sie noch eine Staatsbürgerschaft besassen, faktisch verloren hatten.

6 Rechtliche Aspekte

In der Übernahme von Bestimmungen der deutschen Rassegesetze liegt eines der zentralen rechtlichen Probleme der schweizerischen Flüchtlingspolitik. Dies gilt insbesondere für die Kennzeichnung der Reisepässe deutscher Juden mit dem «J»-Stempel, als die Schweiz die antisemitische Gesetzgebung ihrer eigenen Einreisepraxis zugrunde legte, sowie für die Ausbürgerung der im Ausland lebenden deutschen Juden durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941. Da die Rassegesetze, wie das Bundesgericht bereits während des Krieges festhielt, dem schweizerischen Ordre public widersprachen, waren die daran anschliessenden rechtlichen und administrativen Massnahmen der Schweiz unrechtmässig. Der vorliegende Bericht zeigt, dass dies den Behörden in unterschiedlichem Masse bewusst war und dass es beim Nachvollzug der Ausbürgerungen beträchtliche Unterschiede gab. Am stossendsten ist in diesem Zusammenhang, dass das EJPD auf der einen Seite die Ausbürgerung der deutschen Juden im November 1941 anerkannte und ihnen die Niederlassungsbewilligungen entzog. Auf der anderen Seite betrachtete es die ausgebürgerten Flüchtlinge im Februar 1945, als die Bundesbehörden die in der Schweiz liegenden und von der Schweiz aus verwalteten deutschen Guthaben blockierte, wieder als deutsche Staatsangehörige, worauf die Vermögen der Flüchtlinge genauso wie alle anderen deutschen Vermögen gesperrt wurden.

Auf völkerrechtlicher Ebene gab es nur wenige Bestimmungen, die die Aufnahme und Rückweisung von Flüchtlingen regelten. Immerhin war die Schweiz ab 1937 durch das provisorische Arrangement vom 4. Juli 1936 betreffend den Rechtsstatus von Flüchtlingen aus Deutschland verpflichtet, Flüchtlinge, die sich – legal oder illegal – bereits in der Schweiz befanden, nicht nach Deutschland zurückzuschaffen, sofern sie sich um eine Weiterreise bemühten. Die Wegweisung an der Grenze selbst, über die die einzelnen Staaten autonom entschieden, wurde durch die Vereinbarung dagegen nicht geregelt. Als die Schweiz während des Krieges an ihrer West- und ihrer Südgrenze Flüchtlinge ins Gebiet ihrer Verfolger zurückschickte, widersprach dies zwar nicht dem Buchstaben des genannten Abkommens; es widersprach jedoch dem Sinn der Vereinbarung, die die Rückschaffung in den Verfolgerstaat ausschliessen wollte, und damit einem völkerrechtlichen Verständnis, wie es sich in den 1930er Jahren entwickelte und in der Nachkriegszeit durchsetzen sollte.

Die Behandlung der aufgenommenen Flüchtlinge war durch das Völkerrecht kaum geregelt. Die sogenannte Martensklausel der Haager Landkriegsordnung von 1907 forderte in allgemeiner Form, dass im Krieg alle Personen nach den Grundsätzen der Menschlichkeit zu behandeln seien. Damit war insofern ein Minimalstandard formuliert, als die Schweiz eine Unterbringung, Verpflegung und Betreuung der internierten Militär- und Zivilpersonen gewährleisten musste, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichten.

Verschiedene gegenüber den Flüchtlingen ergriffene Massnahmen waren rechtlich problematisch. Dies gilt, wie oben dargelegt, für die Solidaritätsabgabe. Für die Abnahme und Verwaltung der Flüchtlingsvermögen, die im Sommer 1942 begann, gab es bis zum März 1943 keine formelle Rechtsgrundlage. Dasselbe gilt auch für die Lohnabzüge, denen erwerbstätige Flüchtlinge nach 1945 unterworfen waren. In einem autoritären Selbstverständnis setzten sich die Behörden über rechtliche Einwände hinweg, und zwar besonders dann, wenn kein Widerstand zu erwarten war, was vor allem für staatenlose Flüchtlinge galt.

Die grossen Leitlinien der schweizerischen Flüchtlingspolitik befanden sich in Übereinstimmung mit der damaligen Rechtsordnung. Der Entscheid für einen engen (politischen) Flüchtlingsbegriff, womit jüdische Flüchtlinge kein Asyl erhielten, sondern den fremdenpolizeilichen Bestimmungen des Gesetzes über den Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer unterstellt und als unerwünschte Ausländer behandelt wurden, war ein politischer Entscheid. Er war weder vom Gesetz vorgeschrieben, noch widersprach er völkerrechtlichen oder landesrechtlichen Normen. Die Internierung von Flüchtlingen, die sich illegal im Land befanden und nicht ausgeschafft werden konnten, war rechtlich erlaubt. Und zahlreiche, auf die bundesrätlichen Vollmachten abgestützte Massnahmen konnten mit den besonderen Bedingungen des Krieges gerechtfertigt werden. Die Schweiz hielt sich also weitgehend an den legalen Rahmen, doch sie interpretierte die Normen grundsätzlich zugunsten der Autorität des Staates und nicht zugunsten der Schutzbedürfnisse der Flüchtlinge. Nichts hätte sie daran gehindert, über die völkerrechtlichen Minimalstandards hinauszugehen oder das Landesrecht zugunsten der Flüchtlinge zu interpretieren bzw. zu verändern.

Dies festzuhalten ist insofern wichtig, als sich – bereits in den 1930er Jahren, vor allem aber im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen – während des Krieges ein neues Rechtsverständnis durchzusetzen begann, das über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zur allgemeinen Deklaration der Menschenrechte durch die UNO und weiteren völkerrechtlichen Vereinbarungen führte, die den Freiheitsrechten und Schutzansprüchen des Individuums auf Kosten staatlicher Autorität mehr Gewicht einräumten. Die Schweiz beteiligte sich an diesem Prozess sowohl nach 1933 als auch nach 1945 nur zögerlich. Sie blieb der UNO fern und hielt an ihrer Sonderrolle fest. Dieser Wille zur Kontinuität lässt sich auch in ihrer Politik gegenüber den Fremden und den Flüchtlingen feststellen: Unmittelbar nach Kriegsende drängte sie die Flüchtlinge, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. 1948, im selben Jahr, als sie für mehrere Hundert im Land verbliebene ältere oder gebrechliche Flüchtlinge ein Dauerasyl schuf, revidierte sie ihr Ausländergesetz in eine Richtung, die weiterhin im Zeichen des Kampfes gegen die «Überfremdung» stand.

7 Zwei Fragen

Was wäre geschehen, wenn die Schweiz 1938 nicht auf eine Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden durch den «J»-Stempel gedrängt hätte? Was hätte es bedeutet, wenn die Schweiz im August 1942 ihre Grenze für «rassisch» verfolgte Flüchtlinge nicht geschlossen hätte?

Die Einführung des «J»-Stempels 1938 erschwerte den im Reich lebenden Juden die Emigration. Ohne schweizerisches Drängen wären die Pässe später, vielleicht auch gar nicht gekennzeichnet worden. Dies hätte es den Flüchtlingen weniger schwer gemacht, ein Aufnahmeland zu finden. Dabei wäre die Schweiz für die meisten nicht das Zielland ihrer Flucht gewesen. Ohne «J»-Stempel wäre es jedoch vielen Opfern des Nationalsozialismus möglich gewesen, über die Schweiz oder andere Staaten der Verfolgung zu entkommen.

1942 war die Situation grundlegend anders. Seit 1941 war es den Juden verboten, den NS-Machtbereich zu verlassen, und täglich wurden viele Tausend Kinder, Frauen und Männer systematisch ermordet. Für die Verfolgten war bereits die Flucht bis zur Schweizer Grenze mit grossen Gefahren verbunden. Wenn sie die Grenze erreichten, war die Schweiz ihre letzte Hoffnung. Indem die Schweizer Behörden zusätzliche Hindernisse schufen, trugen sie – ob sie es beabsichtigten oder nicht – dazu bei, dass das NS-Regime seine Ziele erreichen konnte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Öffnung der Grenze einen Angriff der Achsenmächte provoziert oder unüberwindbare wirtschaftliche Schwierigkeiten verursacht hätte. Dennoch verweigerte die Schweiz Menschen in höchster Lebensgefahr die Hilfe. Eine am Gebot der Menschlichkeit orientierte Politik hätte viele Tausend Flüchtlinge vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre Gehilfen bewahrt.