|
Einleitungsreferat
von Prof. Jean-François Bergier, Ex-Präsident
der UEK, an der Pressekonferenz vom 22. März 2002
(Es gilt das gesprochene Wort)
Nun ist das letzte Treffen zwischen Ihnen und der im übrigen bereits
seit drei Monaten aufgelösten Kommission gekommen. Ihre Mitglieder
sind stolz, Ihnen heute den Schlussbericht über die Arbeiten der
Kommission zu präsentieren, der gleichzeitig in vier Sprachen veröffentlicht
wird. Aber dieses Treffen gibt mir auch Gelegenheit, der schweizerischen
wie der ausländischen Presse und dem Publikum zu danken, die unsere
Arbeit kritisch verfolgt haben. Es hat sich in diesen letzten fünf
Jahren ein echter Dialog eingestellt. Mag sein, dass er nicht immer ganz
so ruhig und ausgeglichen war, wie wir es uns gewünscht hätten.
Natürlich rief das Thema die widersprüchlichsten Empfindungen
hervor - was sehr wohl beweist, wie wichtig und notwendig es war, die
uns gestellte Aufgabe anzugehen. Doch wie dem auch sei, es ist der Kommission
stets gelungen, bei allem, was sie tat, ihre Unabhängigkeit zu wahren.
Die Arbeit, die wir Ihnen heute unterbreiten, verfolgt vier Zielsetzungen.
Sie nimmt in der Zusammenfassung die Ergebnisse all unserer Nachforschungen
wieder auf, die in den achtundzwanzig Bänden mit Studien, Forschungsbeiträgen
und juristischen Analysen ausführlich dargelegt wurden. Dadurch wollten
wir sie allgemein leichter zugänglich machen und die bedeutendsten
unter ihnen hervorheben. Das Werk bemüht sich aufzuzeigen - und das
ist ja auch der Sinn einer Zusammenfassung -, inwieweit und wie die verschiedenen
untersuchten Aspekte ineinandergreifen und ein Ganzes bilden, das zwar
komplex, aber untrennbar ist: Erst das Ganze verleiht den einzelnen Teilen
ihre Bedeutung. Es setzt unsere Ergebnisse in ihren nationalen und internationalen
Kontext, in ein Klima, in ein System von Werten und Referenzen, oder besser
gesagt, in Systeme, deren Aufeinanderprallen zwischen 1933 und 1945 die
Tragödie heraufbeschwor. Schliesslich erinnert das Werk daran, auf
welche Grenzen wir bei unserem Unternehmen gestossen sind. Dazu gehört
auch all das, was wir nicht lösen konnten, weil uns entweder die
Quellen fehlten oder aber die Zeit nicht ausreichte, die vorhandenen auszuschöpfen;
es eröffnet Perspektiven für die künftige Arbeit.
Der Grossteil der fünf Jahre, in denen die UEK bestand, war den Nachforschungen
in öffentlichen und vor allem auch privaten Archiven vorbehalten.
Es blieben folglich nur einige wenige Monate, um diese Arbeit unter ungewöhnlichen
und recht unbequemen materiellen Verhältnissen, die der Bundesrat
zu verantworten hat, zu schreiben, zu übersetzen und zu veröffentlichen.
Deshalb liegt das Buch nicht in der formellen Perfektion vor, die wir
uns gewünscht hätten. Die Redaktion und die Übersetzungen
leiden unter dieser Hast: Es gibt bisweilen Weitschweifigkeiten oder auch
leichte Widersprüche in der Beurteilung der Tatsachen unter der Feder
der verschiedenen Autoren. Im Kapitel II werden beispielsweise die Abkommen
von Washington von 1946 als relativer Misserfolg der Schweizer Diplomatie
gewertet, im Kapitel VII dagegen als Erfolg: Das ist lediglich eine Frage
des Standpunkts, vergleichbar mit dem Glas, das ein Betrachter halb leer
sieht, sein Nachbar dagegen halb voll
Diese kleinen Dissonanzen
sind der Ausarbeitung im Kollektiv zuzuschreiben. Wir haben es vorgezogen,
über diese Mängel hinwegzusehen und uns an die vorgegebenen
Fristen zu halten, statt sie auf der Suche nach einer - vielleicht sogar
illusorischen - Perfektion zu überschreiten.
Nun zum Wesentlichen. Ich freue mich, unterstreichen zu können, dass
die ganze Kommission hinter diesem Text steht. Ihre Mitglieder haben den
grössten Teil davon selber geschrieben, durchdiskutiert und eingehend
verbessert, bevor sie ihm zustimmten. Wir brauchten nicht auf ein Verfahren
zurückzugreifen, das unterschiedlichen Meinungen Rechnung tragen
würde: Wir übernehmen gemeinsam die volle Verantwortung für
das, was in dieser Arbeit vorgelegt wird. Natürlich hätte sich
jeder von uns anders ausgedrückt, wenn er die Freiheit gehabt hätte,
diese Zusammenfassung allein zu schreiben. Wir waren nicht immer der gleichen
Ansicht, wie man die Tatsachen darstellen und auslegen sollte - aber es
ist uns immer gelungen, Kompromisse zu finden, die, so meine ich, den
Äusserungen nichts von ihrer Glaubwürdigkeit nehmen, ganz im
Gegenteil. Dagegen sind wir völlig einer Meinung hinsichtlich der
Substanz des Buches, seiner Struktur und seiner Schlussfolgerungen.
Unsere Aufgabe bestand nicht darin, das wissen Sie, eine allgemeine Geschichte
der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus zu
schreiben. Wir sollten lediglich einige umstrittene oder nicht genügend
bekannte Aspekte dieser Geschichte klären. Gemeint sind jene Aspekte,
bei denen die Schweiz, das heisst ihre Verantwortlichen aus Politik und
Wirtschaft, möglicherweise ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden
sind.
Das hat uns in der Tat dazu geführt, drei Bereiche zu identifizieren,
in denen diese Verantwortung nur unzulänglich oder sehr unzulänglich
wahrgenommen worden ist.
Beim ersten handelt es sich um die Flüchtlingspolitik des Bundes
und der Kantone. Das ist bei weitem der sensibelste Bereich, denn hier
geht es um Millionen von Menschenleben. Wie andere Historiker vor uns
mussten wir feststellen, dass diese Politik ausserordentlich restriktiv
war, und das vor allem unnötigerweise. Die hinsichtlich der Zahlen
bestehende Ungewissheit und die Spekulationen, zu denen sie führt,
ändert nichts daran: Eine grosse Zahl von Menschen, deren Leben bedroht
war, wurden ohne Not abgewiesen; andere wurden aufgenommen, doch ihre
Menschenwürde nicht immer geachtet. Der Mut einiger Bürger und
ihr Sinn für Gerechtigkeit, das grosszügige Engagement weiter
Kreise der Bevölkerung haben diese offizielle Politik etwas gemildert.
Aber sie konnten ihr keine andere Richtung geben. Die Behörden jedoch
wussten, welches Schicksal den Opfern bevorstand. Sie wussten auch, dass
eine flexiblere Haltung keine unerträglichen Folgen gehabt hätte,
weder für die Souveränität des Landes, noch für den
Lebensstandard der Bevölkerung, auch wenn dieser prekär sein
mochte. Deshalb müssen wir diese vielleicht in ihrer Form provokative,
doch der Wirklichkeit entsprechende Behauptung aufrechterhalten: Die Politik
unserer Behörden hat dazu beigetragen, das grausamste Ziel der Nazis
zu verwirklichen, den Holocaust.
Der zweite Bereich, den wir hervorheben, betrifft die Arrangements, die
der Bund und ein Teil der Privatindustrie den Achsenmächten zugestanden
haben. Die Frage ist heikel. Niemand kann die Notwendigkeit solcher Arrangements
in Zweifel ziehen: Das wirtschaftliche und politische Leben der Schweiz
verlangten das ganz offensichtlich. Paradoxerweise bildete ein gewisser
Grad an Zusammenarbeit mit der Wirtschaft der Nazis ein Element des Widerstands
gegen den Einfluss der deutschen Macht und war Teil des nationalen Verteidigungsapparats.
Es war zu jener Zeit schwer einzuschätzen, wann man zu weit gehen
würde. Wir zeigen auf, dass man häufig zu weit gegangen ist,
sowohl in Bern wie am Sitz gewisser - jedoch nicht aller - Unternehmen.
Das zeigt, dass gewisse Handlungsspielräume vorhanden waren, die
unterschiedlich, aber zu wenig systematisch ausgemacht und genutzt wurden.
In keinem Fall jedoch haben unsere Nachforschungen eine Zusammenarbeit
aus ideologischen Motiven oder die geringste Sympathie für das Naziregime
erkennen lassen: weder von Seiten der öffentlichen Organe noch von
Seiten der Unternehmen. Manche Unternehmen haben darin eine Gewinnchance
gesehen, andere eine Voraussetzung für ihr Überleben - so wie
der Bund selber. Aus dieser Zusammenarbeit ging jedoch die Neutralität
nicht völlig unbeschadet hervor. Eine Neutralität, die die offiziellen
Reden füllt, die bisweilen bedenkliche Handlungen oder die Weigerung
zu handeln legitimiert. Eine Maxime, die jedem Zweck dient, sich aber
hin und wieder über die vom Neutralitätsrecht auferlegten Pflichten
hinwegsetzt: der sogenannte Milliardenkredit, die Lieferungen von Kriegsmaterial
aus Bundesbeständen, die ungenügende Kontrolle des Eisenbahnverkehrs
zwischen Italien und Deutschland sind die offenkundigsten Beispiele dafür.
Der dritte Bereich schlecht wahrgenommener Verantwortung ist schliesslich
derjenige der Rückerstattungen nach dem Krieg. Weder die Eidgenossenschaft
mit ihren unzureichenden und ungeeigneten Gesetzesbestimmungen noch die
Privatunternehmen, Banken, Versicherungen, Treuhandgesellschaften, Kunstgalerien
oder Museen haben rechtzeitig die erforderlichen Massnahmen ernst genommen,
damit die legitimen Anspruchsberechtigten wieder in den Besitz ihrer Habe
gelangen konnten. Dies ist nicht auf Böswilligkeit oder die Absicht
zurückzuführen, sich auf Kosten der Opfer zu bereichern, sondern
vor allem auf Nachlässigkeit, die Nichtwahrnehmung eines Problems,
das man bestenfalls als ein Randproblem erachtete, oder auch auf die Sorge,
den Vorteil einer Strategie der Diskretion und namentlich des Bankgeheimnisses
zu wahren. Diese Politik hat zu dem geführt, was man als «nachrichtenlose
Vermögenswerte» bezeichnet. Sie ist auch der Grund für
die gestellten Forderungen und die Fragen zu ihrem Image und ihrer Geschichte,
denen zu stellen sich die Schweiz in den letzten Jahren gezwungen sah,
weil sie es vernachlässigt hatte, sie zur rechten Zeit zu klären.
Die Fragen, die ich hier angeschnitten haben, sind nicht die einzigen,
die wir zu klären suchten. Viele andere kommen hinzu, beispielsweise
die Beschäftigung von rund 11'000 Zwangsarbeitern in schweizerischen
Unternehmen in Deutschland, die Verschleierung deutscher und italienischer
Interessen, der Transit von Nazifonds (wie auch flüchtigen Verbrechern)
und andere mehr.
Andererseits sind alle diese Fragen weder vollständig noch endgültig
beantwortet worden. Die Nachforschungen müssen weitergehen. Sie müssen
jetzt den engen nationalen Horizont überschreiten und auf weltweiter
Ebene organisiert werden. Denn die meisten Gegenstände unseres legitimen
Interesses machen nicht an den Grenzen halt, entgehen den begrenzten Perspektiven
jeder betroffenen Nation. Die UEK besteht nicht mehr. Aber ihre Mitglieder
sind da und werden darüber wachen, dass der hier und anderswo entfachte
Elan nicht erlischt.
|
|
|